Berlin Der Verkehrs- und der Gebäudesektor haben die im Klimaschutzgesetz des Bundes festgelegten Obergrenzen für den CO2-Ausstoß voraussichtlich das dritte Jahr in Folge nicht eingehalten. Wenn das Umweltbundesamt am Mittwoch die deutsche Treibhausgasbilanz für 2022 veröffentlicht, dürften die Klimaziele abermals von den beiden Sektoren verfehlt worden sein. Ein Rechtsgutachten sieht darin nun einen Verstoß der gesamten Bundesregierung gegen das Klimaschutzgesetz.
Danach hat es die Regierung verpasst, rechtzeitig Maßnahmen zu beschließen, um die Versäumnisse bei den Klimazielen in den beiden Sektoren auszugleichen. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten der Kanzlei Günther in Hamburg, das von der Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch in Auftrag gegeben wurde. Das Gutachten liegt dem Handelsblatt vor.
Nach Ansicht der Juristen liegt die Verantwortung nicht allein bei den Ministerien, die die Klimaziele nicht eingehalten haben. Vielmehr weise das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung insgesamt die Pflicht zu, schnellstmöglich ein Sofortprogramm zu verabschieden, das die Einhaltung des Klimaschutzgesetzes sicherstellt.
Der Verfasser des Gutachtens, Rechtsanwalt Ulrich Wollenteit, betont: „Ein Verweis auf die Versäumnisse der Fachressorts nimmt die Bundesregierung hier nicht aus der Verantwortung.“ Letztlich liege es in der Verantwortung des Bundeskanzlers, rechtzeitig für einen zielführenden Beschluss zu sorgen.
Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2030 seinen CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um 65 Prozent zu reduzieren. Das sieht das Klimaschutzgesetz vor, das noch von der Großen Koalition 2020 auf den Weg gebracht worden war.
Nachschärfung durch den Gesetzgeber gefordert
Zusätzlich schreibt das Gesetz für jeden der klimaschutzrelevanten Sektoren für jedes Jahr Emissionsobergrenzen fest. Werden diese Obergrenzen gerissen, müssen die zuständigen Ressorts nach einer Bewertung des Expertenrats für Klimafragen ein Sofortprogramm erarbeiten, um den Rückstand auszugleichen. Sanktionen sieht das Klimaschutzgesetz aber nicht vor.
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Der Expertenrat für Klimafragen hat den gesetzlichen Auftrag, die einmal jährlich durch das Umweltbundesamt vorgelegten Daten zu den Treibhausgasen für das Vorjahr zu überprüfen. Dafür hat der Rat einen Monat lang Zeit. Weitere drei Monate später müssen die Sofortprogramme vorliegen, über die nach einer weiteren Prüfung durch den Expertenrat die Bundesregierung beraten sowie Maßnahmen beschließen muss.
Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC und stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats, sagte dem Handelsblatt: „Der Beschluss über die zu ergreifenden Maßnahmen sollte zeitnah erfolgen.“ Im Klimaschutzgesetz heiße es „schnellstmöglich“, sagte sie weiter. Schließlich sei wegen einer möglichen erneuten Zielverfehlung bald schon wieder das nächste Sofortprogramm fällig.
Das Klimaschutzgesetz definiert nicht konkret, bis wann ein Sofortprogramm zu hohe Emissionen ausgleichen muss. Der Expertenrat hatte deswegen bereits im vergangenen Jahr eine Nachschärfung durch den Gesetzgeber gefordert.
Laut Rechtsgutachten verlangt das Klimaschutzgesetz die Einhaltung der sektoralen Jahresemissionsmengen schon im Folgejahr. Ein Einhalten nur der kumulierten Emissionsmengen bis 2030 reiche nicht aus.
CDU: Glaubwürdigkeit von Olaf Scholz steht auf dem Spiel
Das vom Verkehrsministerium im vergangenen Sommer vorgelegte Sofortprogramm war vom Expertenrat für Klimafragen zudem als unzureichend zurückgewiesen worden. Das Programm von Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) war milder beurteilt worden. Doch auch hier hieß es, dass die Ziele im Gebäudesektor in den nächsten Jahren wohl weiter verfehlt würden. Erst ab 2028 könnten sie wieder erreicht werden. „Ob die Einsparungen allerdings wirklich in diesem Umfang realisiert werden können, erscheint nach unserer Prüfung fraglich“, so die Experten.
Auch Klimaforscherin Knopf verweist auf die Verantwortung der gesamten Bundesregierung. Zwar müsse das Verkehrsministerium zunächst ein Sofortprogramm vorlegen, sagte sie. Dann aber sei im Klimaschutzgesetz vorgesehen, dass die gesamte Bundesregierung darüber berate. „Bei der Verzögerung des Sofortprogramms geht es also nicht nur um die Verantwortung des Verkehrsministeriums, sondern die gesamte Bundesregierung steht in der Pflicht, zu handeln und einen Beschluss herbeizuführen.“ Somit habe der Kanzler „eine besondere Verpflichtung und Verantwortung“.
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Andreas Jung, Sprecher für Klimaschutz und Energie der CDU/CSU-Bundestagfraktion, sagte: „Wenn Olaf Scholz beim Klimaschutz nicht jegliche Glaubwürdigkeit verspielen will, dann muss er spätestens jetzt unverzüglich handeln.“ Die Bundesregierung „verstößt insgesamt eklatant gegen das Klimaschutzgesetz“ und müsse kurzfristig ein Paket mit überzeugenden Maßnahmen für die Klimaziele im Verkehrs- und Gebäudesektor vorlegen.
„Wie sollen Bürgerinnen, Bürger und Betriebe glaubwürdig zu starkem Klimaschutz ermuntert werden, wenn die Regierung selbst nicht einmal ihrer gesetzlichen Pflicht nachkommt?“, fragte Jung. Alle Koalitionspartner seien nun gefordert.
Christoph Bals, politischer Geschäftsführer von Germanwatch, forderte die Bundesregierung auf, sicherzustellen, „dass sich ein solcher Rechtsbruch nicht wiederholt“.
Debatte um jährliche Sektorziele
Der Ökonom Hubertus Bardt vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, sagte, die Politik habe sich mit den strengen jährlichen Sektorzielen „selbst eine Falle gestellt“. Wenn ein Ziel zu einem Zeitpunkt nicht zu vertretbarem Aufwand erreichbar sei, „muss man sich das auch eingestehen“, sagte er dem Handelsblatt. „Natürlich kann man mit der Brechstange einiges durchsetzen, aber dabei können hohe soziale und ökonomische Kosten entstehen.“
FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler hält das Klimaschutzgesetz in seiner bisherigen Form für „nicht praxistauglich“. Niemand könne die technologische und wirtschaftliche Entwicklung in den kommenden Jahren exakt voraussehen, sagte er. Deswegen müssten jährliche Sektorziele zwangsläufig willkürlich sein und auf Spekulation beruhen. Köhler sprach sich dafür aus, die jährlichen Sektorziele durch eine mehrjährige und sektorübergreifende Gesamtrechnung zu ersetzen.
Matthias Miersch, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, verteidigte die jährlichen Sektorziele. „Der zentrale Geist des Gesetzes ist es, ein Aufschieben auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verhindern“, sagte Miersch dem Handelsblatt.
Miersch sieht aber auch die gesamte Regierung in der Pflicht. „Wir sehen gerade, dass die Verabschiedung eines wirkungsvollen Sofortprogramms vor allem auch im Mobilitätsbereich eine große Herausforderung darstellt“, die aber letztlich von der gesamten Bundesregierung zu leisten sei.
Die Grünen sehen vor allem die FDP in der Pflicht. „Es ist erschreckend, wie ein einziger Minister die gesamte Bundesregierung durch seine Verweigerungshaltung in Sippenhaft nimmt und wichtige Entscheidungen im Kabinett blockiert“, so Grünen-Klimaexpertin Lisa Badum. „Wenn die Emissionszahlen für 2022 vorgestellt werden, wird noch einmal deutlicher werden, wie groß die Lücke im Verkehrsbereich ist.“
Im Koalitionsvertrag hatte sich die Bundesregierung vorgenommen: „Wir werden ein Klimaschutzsofortprogramm mit allen notwendigen Gesetzen und Vorhaben bis Ende 2022 auf den Weg bringen und abschließen.“ Ein solches Programm soll sicherstellen, dass Deutschland auf dem richtigen Pfad ist, um seine Klimaschutzziele für 2030 zu erreichen. Es liegt aber bis heute nicht vor.
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