Brüssel, Berlin Es galt, eine prekäre Abhängigkeit zu überwinden und Europas Souveränität zu stärken, schon damals. Der „Plan Calcul“, 1966 von Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle in Kraft gesetzt, sollte eine einheimische Computerindustrie aufbauen helfen und die Dominanz von US-Konzernen wie IBM brechen. Hunderte Millionen Franc verschlang die Initiative, 1974 wurde sie eingestellt. Der „Plan Calcul“ war ein Fehlschlag.
Jetzt wollen die Europäer einen neuen Anlauf wagen, mit einem Plan, dessen Ambitionen alle bisherigen industriepolitischen Programme in den Schatten stellen. Nicht bloß um Computer geht es, sondern um zukunftsträchtige Produkte aller Art: um Mikrochips, Batterien, Wärmepumpen, Windräder und Solarzellen.
Am Donnerstag will EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen den „Net Zero Industry Act“ vorlegen, der Investitionen in die Massenproduktion von klimaneutralen Technologien lenken soll. Er folgt auf den „Chip Act“, mithilfe dessen die EU Chipfabriken in Europa ansiedeln will, und wird flankiert durch den „Raw Materials Act“, dessen Ziel es ist, Abbau und Verarbeitung wichtiger Rohstoffe zu fördern.
Die Gesetzesoffensive ist eine Reaktion auf die Subventionsprogramme der USA und Chinas – und sie bedeutet eine Neuausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik. Die Kommission, die ihre Aufgabe lange darin sah, Marktbarrieren einzureißen, bricht mit ihren liberalen Traditionen. Vielen Ökonomen ist das unheimlich: Ordnungspolitik werde verdrängt durch Dirigismus, Offenheit durch Importsubstitution.
„Wir erleben ökonomischen Nationalismus auf EU-Ebene“, kritisiert Jeromin Zettelmeyer, Direktor der Brüsseler Wirtschaftsdenkfabrik Bruegel. Die Gesetzesvorschläge seien „eine europäische protektionistische Antwort auf protektionistische Bestrebungen der USA“.
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Was den EU-Plan auszeichnet, sind konkrete Produktionsziele: Bis 2030 soll Europa in der Lage sein, 40 Prozent des jährlichen Bedarfs an emissionsfreien Technologien selbst zu produzieren. Damit geht die EU sogar weiter als der „Inflation Reduction Act“, das Subventionsgesetz der USA. „Die Amerikaner geben Mittel vor“, betont Zettelmeyer. „Wir legen Quoten fest.“
Über „Ursulas Gosplan“ lästern Brüsseler Diplomaten inzwischen – in Anlehnung an das zentrale Planungskomitee der Sowjets. „Es wird zu sehr versucht, die Wirtschaft staatlich zu lenken“, klagt DIHK-Präsident Peter Adrian. Auch in der Kommission ist der wirtschaftspolitische Kurswechsel umstritten. Wichtig sei, „dass wir nicht in einen grünen Protektionismus verfallen und den grünen Umbau der Wirtschaft noch teurer machen“, sagt ein EU-Beamter.
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Doch von der Leyen bleibt unbeirrt. Sie verweist auf die ökonomische Erpressbarkeit Europas. „Die Pandemie und der Ukrainekrieg haben uns eine bittere Lektion in Sachen Abhängigkeiten erteilt“, sagte sie am Mittwoch im EU-Parlament. Europa erhalte 98 Prozent seiner seltenen Erden, 93 Prozent seines Magnesiums und 97 Prozent seines Lithiums aus China. Aus Sicht der Kommissionschefin ein untragbares Risiko. Denn ohne diese Rohstoffe dreht sich in Europa kein neues Windrad, läuft kein E-Auto vom Band.
Bundesregierung entwickelt Pläne für Photovoltaik-Module
Auch die Bundesregierung betrachtet die Abhängigkeit von China mit Sorge. Das Wirtschaftsministerium entwickelt Pläne, um eigene Produktionskapazitäten für Photovoltaik-Module, Windräder, Stromnetze, Elektrolyseure und Wärmepumpen auszubauen – und schert sich dabei wenig um die liberalen Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft, der sich das Haus bisher verpflichtet fühlte.
Wie stark die Stellung Chinas ist, wird am Beispiel von Photovoltaikmodulen deutlich. Nach Angaben der bundeseigenen Deutschen Energie-Agentur (Dena) stellt China bereits heute über 80 Prozent der weltweiten Fertigungskapazitäten für Photovoltaik-Module über alle Wertschöpfungsstufen hinweg. Zum Vergleich der Abhängigkeiten: Im Jahr 2021, also dem Jahr vor Beginn des Ukrainekriegs, bezog Deutschland 55 Prozent des Erdgases aus Russland.
Dabei galt Deutschland lange als Photovoltaikpionier. Doch China hat den Markt übernommen. Das Land stampfte mit massiver staatlicher Unterstützung eine Solarindustrie aus dem Boden. In Deutschland sind nur Reste übrig.
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Die Politik will daraus nun wieder etwas Großes formen. Die Dena hat im Auftrag des Wirtschaftsministeriums einen Maßnahmenkatalog erstellt. Zentraler Punkt sollen staatliche Abnahmegarantien für europäische Produzenten sein. In dem Dena-Papier ist dieses Modell am Beispiel der Windenergie skizziert: Staatliche Garantien sollen es „ermöglichen, den Komponenteneinkauf und die Anlagenproduktion schon vor Eingang der Anlagenbestellung durch den Projektentwickler zu beginnen“, heißt es. Ähnliche Modelle sind für die Solarbranche im Gespräch.
An fehlendem Geld soll es nicht scheitern. In dem Papier der Dena heißt es, der Bund solle „mindestens für die erfolgreiche Wiederbelebung einer europäischen Photovoltaik-Industrie die ausreichende Verfügbarkeit von Kapital sicherstellen“. Inwieweit dies auch für den Ausbau von Produktionskapazitäten für Windenergie und Netzausbau gelte, müsse geprüft werden.
Die EU-Gesetze sollen den Rahmen für die stärkere nationale Förderung bilden. Eine Lockerung der Beihilferegel hat die Kommission bereits präsentiert; der „Net Zero Industry Act“ und der „Raw Materials Act“ sehen zudem eine drastische Verkürzung der Genehmigungsverfahren für strategische Investitionsprojekte vor.
USA liefern theoretischen Überbau
Den theoretischen Überbau für den neuen Interventionismus liefert US-Finanzministerin Janet Yellen, die eine „moderne Angebotsökonomie“ propagiert. Die Idee dahinter ist, das volkswirtschaftliche Produktionsvermögen mit gezielten Investitionen zu erhöhen und so „Amerikas Führerschaft in den Industriebereichen der Zukunft für viele Jahre zu stärken“.
Kritiker wie Bruegel-Chef Zettelmeyer sehen in der „modernen Angebotsökonomie“ bloß den „Neuaufguss eines uralten Konzepts“ – Industriepolitik von gestern, die Wiederkehr des „Plan Calcul“.
Doch von der Leyen hat Yellens Denken übernommen. Tabubruch hin oder her, man müsse sich fragen, wie weit man mit der reinen Lehre gekommen sei, die alles dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen habe. So denkt die Kommissionsspitze inzwischen.
Zuspruch erhält die Behörde von Praktikerinnen. Die Kritik an EU-Vorschlägen „stammt direkt aus den 90er-Jahren, als demokratische Länder einen komfortablen Technologievorsprung hatten und die multilaterale Weltordnung funktionierte“, argumentiert Ann Mettler, Europachefin der Investmentfirma Breakthrough Energy. Mettler hat früher selbst in der Kommission gearbeitet, sie kennt den wirtschaftsliberalen Geist, der die Institution lange geprägt hatte.
China und Russland nutzten Europas Abhängigkeiten als Druckmittel
Doch Laisser-faire funktioniere in Zeiten geopolitischer Spannungen nicht mehr, sagt Mettler heute. Mächte wie China und Russland nutzten Europas Abhängigkeiten als Druckmittel. Ein Argument, das auch Ökonomen inzwischen vorbringen. „Wir müssen uns neuen Realitäten stellen“, sagt Armin Steinbach, Professor an der Wirtschaftshochschule HEC Paris. „Eine Logik, die sich nur an Kosteneffizienz orientiert, reflektiert unsere Verwundbarkeiten nicht hinreichend.“
Politischen Rückhalt für die wirtschaftspolitische Neuausrichtung gibt es ohnehin. Selbst die Liberalen, denen eine staatlich gelenkte Produktion suspekt sein müsste, können den Ideen Positives abgewinnen. „Es wird Zeit, dass nicht nur die Patente, sondern auch die Produkte aus Deutschland kommen“, sagt der energiepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Michael Kruse. Die Förderung der Produktion sei daher richtig.
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