London Der „Budget Day“ ist in Großbritannien ein politisches Großereignis. Das Unterhaus ist so voll, dass viele Parlamentarier stehen müssen, um die Haushaltsrede von Finanzminister Jeremy Hunt am Mittwochnachmittag zu hören. Draußen vor dem Parlament demonstrieren Lehrer und junge Ärzte für höhere Löhne im öffentlichen Dienst. Die Stimmung ist aufgeheizt – drinnen wie draußen.
Großbritannien wird seit Monaten immer wieder von Massenstreiks lahmgelegt. Die Lohnentwicklung kann mit der Inflationsrate von zuletzt rund zehn Prozent nicht Schritt halten. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Nachwirkungen des Brexits. Zugleich leidet das Land unter einer chronischen Produktivitäts- und Wachstumsschwäche.
Großbritannien ist das einzige Land unter den sieben großen Industrienationen (G7), das den wirtschaftlichen Wohlstand, den es vor der Pandemie hatte, noch nicht wieder erreicht hat. Hunt erklärte schriftlich gegenüber dem Handelsblatt, wie er den Rückstand aufholen will: „Die britische Wirtschaft hat sich angesichts der schweren globalen Herausforderungen als widerstandsfähiger erwiesen, als viele erwartet hatten“, betont der Tory-Politiker. Das Vereinigte Königreich sei im vergangenen Jahr die am schnellsten wachsende Wirtschaft in der G7 gewesen, und der Privatsektor habe sich bereits wieder auf das Niveau vor der Pandemie erholt.
„Ich räume jedoch ein“, so der Finanzminister weiter, „dass unsere Erholung noch nicht abgeschlossen ist. Dank der Maßnahmen, die ich im Frühjahrshaushalt vorgestellt habe, werden wir nun voraussichtlich eine Rezession vermeiden, die Inflation in diesem Jahr mehr als halbieren, und die Verschuldung wird voraussichtlich ab 2027/28 sinken.“
Hunt will chronische Wachstumsschwäche angehen
An der chronischen Wachstumsschwäche haben sich schon zahlreiche Finanzminister die Zähne ausgebissen. Hunt ist dennoch zuversichtlich, dass er der Wirtschaft einen Schub versetzen kann: „Mit unseren Haushaltsplänen wollen wir zwei Haupthindernisse für das Wachstum beseitigen: die zu geringe Erwerbstätigkeit auf unserem Arbeitsmarkt und die Investitionen der Unternehmen.“ Dazu habe er wichtige Maßnahmen angekündigt, um mehr Menschen in Arbeit zu bringen. So möchte er Eltern bei der Kinderbetreuung stärker unterstützen, und Langzeitkranken soll die Rückkehr ins Arbeitsleben erleichtert werden.
In seiner Rede hatte Hunt darauf hingewiesen, dass sich in Großbritannien etwa sieben Millionen arbeitsfähige Erwachsene vom Arbeitsmarkt abgewandt haben.
Erklärungsbedarf gibt es aber vor allem bei der Investitionsförderung. Trotz parteiinterner Kritik will der Finanzminister den Körperschaftsteuersatz für Unternehmen von 19 auf 25 Prozent erhöhen. Der niedrige Steuersatz habe die Investitionstätigkeit der Firmen nicht ausreichend angeregt, sagte er im Unterhaus.
„Was die Unternehmensteuern angeht, so habe ich eine Senkung um neun Milliarden Pfund pro Jahr angekündigt, die durch eine neue Politik der vollständigen Abschreibung erreicht werden soll“, so Hunt gegenüber dem Handelsblatt. Den Steuerzahlern werde es damit ermöglicht, 100 Prozent der Kosten für bestimmte Anlagen und Maschinen von ihren Gewinnen vor Steuern abzuziehen. „Das bedeutet, dass Großbritannien die wettbewerbsfähigste Abschreibungsregelung in der OECD haben wird.“
Hunt, der beim Brexit-Referendum 2016 noch für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt hatte, gehört heute zu denjenigen, für die der Austritt mehr Chancen als Risiken beinhaltet. Dass der Brexit das Land ärmer gemacht habe, bestreitet er – obwohl sowohl das parteiunabhängige Office for Budget Responsibility (OBR) als auch britische Notenbanker negative Folgen für Wachstum und Investitionen vorausgesagt haben. „Ich möchte darauf hinweisen, dass Großbritannien seit 2010 schneller gewachsen ist als Japan, Frankreich und Italien und in etwa gleich schnell wie Deutschland“, betont der Tory-Politiker. Das britische Volk habe für den Brexit gestimmt, und „wir konzentrieren uns darauf, die sich daraus ergebenden Chancen zu nutzen“.
Zugleich erneuert Hunt sein Versprechen von einer „Brexit-Dividende“: „Wir haben bereits unsere Pläne für die Zukunft unseres Finanzdienstleistungssektors festgelegt und Investitionen in Höhe von mehr als 100 Milliarden Pfund für große Infrastrukturprojekte freigesetzt.“ Zudem will Hunt die Zulassung für neue Arzneimittel und Gesundheitsprodukte beschleunigen, „zum Beispiel durch die Einführung der weltweit schnellsten und einfachsten behördlichen Genehmigung für Unternehmen, die in den nächsten zwei Jahren einen schnellen Marktzugang anstreben“.
Deregulierung soll für Wachstum sorgen
Einen Standortwettbewerb mit der EU, der zu verringerten Standards führt, befürchtet Hunt nicht: „Ich weiß, dass der Erfolg Großbritanniens in unseren führenden Sektoren – einschließlich Finanzdienstleistungen und Biowissenschaften – auf gleichbleibend hohen Regulierungsstandards und Offenheit beruht. Wir haben nicht vor, das zu ändern“, betont der Schatzkanzler.
Stattdessen gehe es bei seinen Reformen vor allem darum, „mutig darüber nachzudenken, wie wir am besten regulieren“. Das gelte auch für den Technologiesektor. Das Rahmenkonzept für Wissenschaft und Technologie konzentriere sich auf zehn Schlüsselmaßnahmen, von der Verfolgung umwälzender Technologien wie KI und Supercomputing bis hin zur Anwerbung von Spitzentalenten.
Mehr: London will die chronische Wachstumsschwäche mit steuerlichen Anreizen bekämpfen
<< Den vollständigen Artikel: Großbritannien: Britischer Finanzminister Hunt will Wachstum schaffen – und leugnet Brexit-Folgen >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.