Athen Griechenland kommt nicht zur Ruhe. Seit vor zwei Wochen beim Frontalzusammenstoß zweier Züge nahe der Ortschaft Tempi 57 Menschen starben, kommt es fast täglich zu Protesten. Am Donnerstag legten die Gewerkschaften mit einem Generalstreik das Land lahm.
Betroffen waren vor allem die öffentlichen Verkehrsmittel und der Luftverkehr. Alle Flüge von und nach Griechenland fielen aus. In Athen, Thessaloniki und anderen Städten gingen Zehntausende mit Sprechchören wie „Wir werden nicht vergessen, wir werden nicht verzeihen“ auf die Straßen. Die Demonstranten forderten eine lückenlose Aufklärung der Umstände, die zu dem Unglück führten.
Die Tragödie von Tempi hat die politische Landschaft in Griechenland verändert. Das Entsetzen angesichts der Katastrophe und die Trauer über den Tod so vieler Menschen beginnen in Wut umzuschlagen. Sie richtet sich vor allem gegen die Regierung. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts MRB im Auftrag des Fernsehsenders Open TV bewerten 62 Prozent das Krisenmanagement des Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis negativ.
Bisher galt der seit vier Jahren regierende konservative Premier als Anwärter auf eine zweite Amtszeit. Bei den im Frühjahr fälligen Parlamentswahlen hoffte er, seine absolute Mehrheit zu verteidigen. Das ist jetzt unwahrscheinlich geworden.
In jüngsten Umfragen verzeichnet die Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) herbe Einbußen. Setzt sich die Talfahrt der Mitsotakis-Partei bis zu den Wahlen fort, könnte der radikallinke Oppositionsführer und Ex-Premier Alexis Tsipras an die Macht zurückkehren.
„Tragischer menschlicher Fehler“
Mitsotakis hatte das Unglück zunächst auf einen „tragischen menschlichen Fehler“ zurückgeführt: Ein Fahrdienstleiter hatte mit einer falschen Weichenstellung einen aus Athen kommenden Intercity mit 350 Fahrgästen auf Kollisionskurs mit einem entgegenkommenden Güterzug geschickt. Die Züge rasten mit hoher Geschwindigkeit ineinander.
Inzwischen weiß man: Es war nicht nur menschliches Versagen. Kaputte Lichtsignale, antiquierte Technik, fehlerhafte Sicherheitssysteme: Erst drei Wochen vor der Katastrophe hatten Bahngewerkschafter in einem Brandbrief an den Verkehrsminister und die Bahngesellschaft die Missstände geschildert. „Worauf warten Sie, um einzugreifen? Was muss noch passieren?“, hieß es in dem Schreiben.
Verkehrsminister Kostas Karamanlis trat noch am Tag nach dem Unglück zurück. Die Sicherheitsmängel und Versäumnisse bei der griechischen Bahn fallen zwar auch in die Verantwortung früherer Regierungen.
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Mitsotakis muss sich aber fragen lassen, was er in den vergangenen vier Jahren getan hat, um die Fehler zu korrigieren – offenbar nichts oder jedenfalls nicht genug. Der griechische Premier hält sich viel auf seine Reformpolitik zugute, vor allem die Digitalisierung. Bei der Bahn herrschen aber Zustände wie vor 100 Jahren: Weichen werden von Hand gestellt, Züge telefonisch von einem Bahnhofsvorsteher an den nächsten übergeben.
Mitsotakis hat um Entschuldigung gebeten
Inzwischen hat Mitsotakis in den sozialen Medien um Entschuldigung gebeten – „sowohl persönlich, als auch im Namen all derer, die das Land jahrelang regiert haben“, wie er auf Twitter schrieb. Doch der Zorn trifft vor allem ihn und seine Partei.
Erstmals seit sechs Jahren ist die ND jetzt in den MRB-Umfragen unter die 30-Prozent-Marke gerutscht. Der Vorsprung zum Linksbündnis Syriza ist von rund acht auf unter drei Prozentpunkte geschrumpft.
Damit können die Demoskopen nicht mehr klar prognostizieren, welche der beiden Parteien die Wahl gewinnen wird. Syriza-Chef Tsipras könnte versuchen, mit linken Splitterparteien wie der sozialdemokratischen Pasok und der Partei MeRa25 seines früheren Finanzministers Yanis Varoufakis eine Koalition zu bilden.
Dies erinnert an den Januar 2015: Damals bescherte die Schuldenkrise dem Linksbündnis Syriza den Wahlsieg. Binnen sechs Monaten wurde das griechische Finanzsystem an den Rand des Zusammenbruchs geführt.
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Um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, mussten die Euro-Partner ein drittes Rettungspaket schnüren. Jetzt könnte das Zugunglück Griechenland neue politische und wirtschaftliche Turbulenzen bescheren.
Mitsotakis spielt derweil auf Zeit. Der Wahltermin muss spätestens im Juli sein, da dann die Legislaturperiode in dem Land endet. Der 9. April, der bisher als möglicher Wahltermin genannt wurde, wird aufgrund des Zugunglücks jedoch nicht mehr angepeilt. Der Regierungschef dürfte den Urnengang so lange wie möglich hinauszögern in der Hoffnung, dass sich bis dahin der Zorn der Wähler auf das Staatsversagen etwas gelegt hat.
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