Paris Mehr als eine Million Menschen auf den Straßen, mehr als 400 verletzte Polizisten, brennende Barrikaden: Die Proteste gegen die Rentenreform von Emmanuel Macron verschärfen sich zusehends. Einen für nächste Woche geplanten Staatsbesuch des britischen Königs Charles III. in Paris sagte Macron angesichts der Unruhen ab. Statt royalem Prunk erwartet ihn am Dienstag der mittlerweile zehnte landesweite Protesttag.
In einer Umfrage für den Nachrichtensender CNews gaben 58 Prozent an, sie seien „sehr wütend“ über Macrons Wirtschafts- und Sozialpolitik. Weitere 25 Prozent erklärten, zumindest „ein bisschen wütend“ zu sein. In einer anderen Umfrage sackte die Beliebtheit des Präsidenten auf 28 Prozent ab.
Der Unmut steht allerdings in deutlichem Kontrast zur Wirtschaftslage in Frankreich, denn das Land steht vergleichsweise gut da. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) wächst stärker als in Deutschland und die Arbeitslosenquote liegt auf dem niedrigsten Stand seit 15 Jahren. Ökonomen führen das vor allem auf die Reformagenda des Präsidenten zurück.
„Ich glaube, dass die wirtschaftlich gute Entwicklung Frankreichs in den letzten Jahren maßgeblich mit dem Reformwillen von Macron zusammenhängt“ sagt Armin Steinbach, Professor an der Pariser Wirtschaftsuniversität HEC. Im vergangenen Jahr legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Frankreich trotz der Krise um 2,6 Prozent zu, während Deutschlands Wirtschaft nur um 1,9 Prozent wuchs.
Für 2023 rechnet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) damit, dass die französische Wirtschaft immerhin 0,7 Prozent zulegen wird. Für Deutschland sagt die OECD in diesem Jahr ein Wachstum von 0,3 Prozent voraus.
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Macron hat in seiner ersten Amtszeit den Arbeitsmarkt reformiert und die Steuern für Unternehmen gesenkt. Das hat den Standort Frankreich auch für internationale Firmen attraktiver gemacht: Die staatliche Außenhandelsagentur Business France registrierte 2022 gut 1700 Projekte von ausländischen Investoren, ein Rekordwert.
Nur: Viele Franzosen haben den Eindruck, dass die positiven makroökonomischen Kennziffern mit ihrem Alltag nichts zu tun haben. Das weiß auch Macron: „Es gibt ein Gefühl der Ungerechtigkeit“, versuchte er in einem Fernsehinterview den Widerstand gegen seine Reform zu erklären.
Der Präsident sprach dann über hohe Gewinne von Konzernen, die für Aktienrückkäufe genutzt worden seien. Macron will nun die Beschäftigten an den Profiten stärker beteiligen.
Wie das konkret geschehen soll, war zunächst unklar. Macron sagte, dass seine Regierung an einer „außergewöhnlichen Abgabe bei außergewöhnlichen Gewinnen“ von großen Unternehmen arbeiten werde.
Die Arbeitslosenquote sank seit Macrons Amtsantritt im Mai 2017 von 9,5 auf 7,2 Prozent im vierten Quartal 2022. Unter seinem Vorgänger François Hollande war der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit noch die zentrale soziale Frage, nun sorgt sich Frankreich eher um einen Fachkräftemangel – auch wenn die hohe Jugendarbeitslosigkeit ein Problem bleibt.
Der „drastische Rückgang“ der Arbeitslosigkeit sei durchaus Macron zuzuschreiben, sagt Lisa Thomas-Darbois vom Pariser Thinktank Institut Montaigne. Er habe vor allem kleinen und mittleren Unternehmen mehr Flexibilität bei der Einstellung von neuen Beschäftigten ermöglicht. Das von Macron ausgegebene Ziel der Vollbeschäftigung sei anders als unter seinen Vorgängern nicht mehr unrealistisch, meint die Wirtschaftsexpertin.
Auch die Lage der jungen Bevölkerung habe der Präsident mit der Aufwertung der dualen Berufsausbildung nach deutschem Vorbild verbessert. „Wir haben im vergangenen Jahr so viele Auszubildende wie noch nie gehabt“, sagt Thomas-Darbois. Dem französischen Arbeitsministerium zufolge wurden 2022 mehr als 800.000 neue Ausbildungsverträge unterschrieben, ein Anstieg um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Milliarden für soziale Maßnahmen in der Krise
Auch die Hilfen in Krisenzeiten waren üppig, nicht zuletzt durch eine großzügige Deckelung der Energiepreise. Frankreich habe sehr früh eine Bremse für Strom- und Gaspreise eingeführt, sagt Ökonom Steinbach, und damit zügig die Inflation bekämpft. Dazu kam eine gezielte Unterstützung für untere Einkommensschichten.
Vincent Mortier und Didier Borowski vom Investmentfonds Amundi schreiben in einer Analyse, dass sich der französische Energiepreisdeckel „bei der Eindämmung der Inflation als sehr wirksam erwiesen hat, sodass die französischen Haushalte bessergestellt sind als die in den Nachbarländern“. Die französische Inflationsrate gehörte vergangenes Jahr mit 5,2 Prozent zu den niedrigsten in der EU. In Deutschland lag sie bei 6,9 Prozent.
In Macrons erster Amtszeit legte die Kaufkraft der Haushalte einer Studie des französischen Wirtschaftsforschungsinstituts OFCE zufolge im Durchschnitt um 294 Euro pro Jahr zu – deutlich stärker als unter seinen beiden Vorgängern François Hollande und Nicolas Sarkozy. Profitiert hätten vor allem mittlere Einkommensschichten.
2022 blieb die Kaufkraft laut dem nationalen Statistikamt Insee trotz der hohen Inflation stabil. Dafür sei eine Reihe von Maßnahmen verantwortlich, die Macrons Regierung ergriffen habe – von der Anhebung des Mindestlohns über die Erhöhung von Renten und Sozialleistungen bis zur Abschaffung der Rundfunkgebühr.
Steinbach führt auch die von Macron geschaffene Möglichkeit an, dass Unternehmen ihren Beschäftigten eine steuer- und abgabenfreie Kaufkraftprämie auszahlen können. „Das hat Deutschland sich dann ja abgeguckt“, sagt er.
Staatsverschuldung ist deutlich gestiegen
Montaigne-Expertin Thomas-Darbois weist darauf hin, dass nicht nur Unternehmen, sondern auch Haushalte in den vergangenen Jahren von niedrigeren Steuern profitiert hätten. Insgesamt sei die Steuerlast in Macrons erster Amtszeit um fast 50 Milliarden Euro reduziert worden. Die Kombination aus Steuersenkungen und hohen Ausgaben in der Corona- und Energiekrise habe aber zu einem Anstieg der Staatsverschuldung geführt, die mittlerweile bei mehr als 110 Prozent des BIP liegt.
In diesem Jahr dürfte Macrons Regierung den Haushaltsplanungen zufolge erneut ein Defizit von fünf Prozent des BIP einfahren, erst 2027 soll der Fehlbetrag wieder unter drei Prozent liegen. Das ist die Vorgabe der Maastricht-Kriterien. Steinbach sagt, dass Macron fiskalpolitisch kaum eine andere Wahl als die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters habe: „Das demografische Problem rollt auf Frankreich genauso zu wie auf andere alternde Gesellschaften.“ Frankreich habe zwar eine etwas höhere Geburtenrate als Deutschland – doch eine Schieflage im Rentensystem droht auch dort.
Mehr: Macron im Interview: Haben Notwendigkeit der Rentenreform nicht deutlich genug gemacht
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