Wien Awdijiwka ist die Stadt der Déjà-vus. Fast 35.000 Einwohner hatte der ostukrainische Ort vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Dieser begann nicht vor einem, sondern vor neun Jahren, mit Russlands erstem Überfall auf den Donbass: Von Moskau gestützte Separatisten eroberten Awdijiwka, im Herbst 2014 holten die Ukrainer die Stadt zurück. Seither gehören Kämpfe und Artilleriebeschuss zum Alltag der Bevölkerung.
So schlimm wie jetzt war die Lage aber nie: Laut Witali Barabasch, dem Leiter der militärisch-zivilen Verwaltung, befinden sich noch 2000 Menschen in der Stadt. Sie herauszubringen wird zunehmend schwieriger. Die Zufahrtsrouten nach Westen stehen unter anhaltendem feindlichem Artilleriebeschuss. Barabasch spricht von einer „Straße des Todes“. Es gebe nur noch „Schlupflöcher“ für Evakuierungen.
Awdijiwka ist wie das 50 Kilometer nordöstlich gelegene Bachmut eine Festungsstadt entlang der seit 2014 angelegten ukrainischen Verteidigungslinie. Und wie in Bachmut versuchen die Russen, Awdijiwka einzukreisen. Während ihre Angriffe rund um Bachmut inzwischen seit mehreren Wochen stagnieren, sind die russischen Streitkräfte in Awdijiwka aufgrund von Verstärkungen jüngst vorgerückt, vor allem im Norden der Stadt.
Angesichts der drohenden Einkesselung bezeichnete ein ukrainischer Militärsprecher Awdijiwka vor wenigen Tagen als ein mögliches zweites Bachmut. Es gibt Parallelen, allerdings ist der Vergleich auch unpräzise.. In der vergangenen Woche war die Rede von täglich mehreren Hundert Toten und Verletzten auf beiden Seiten.
Die Ukrainer haben wiederholt russische Angriffe mit Phosphorbomben gemeldet und, Anfang März, mit Marschflugkörpern. In einem am Freitag veröffentlichten Interview erzählt der Politologe und Frontkämpfer Taras Beresowez zudem, Moskau setze in der Umgebung Awdijiwkas auf Sturmangriffe von mobilisierten Truppen. Diesen folgten dann in einer zweiten Welle besser ausgebildete Soldaten, die Schwächen in den ukrainischen Stellungen auszunutzen versuchten. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Sorge vor Einkreisung der Stadt
Die Stadt selbst gilt dennoch als schwierig einzunehmen, weil sich in ihr ein 340 Hektar großes Fabrikgelände befindet. Es erinnert an die Asowstal-Fabrik in Mariupol, die die Russen fünf Wochen lang belagerten, bevor die Verteidiger kapitulierten. Der britische Geheimdienst sieht in den verwinkelten Gebäuden und Kellern „ein besonders gut zu verteidigendes Schlüsselgelände“ in einer möglichen zukünftigen Entscheidungsschlacht.
Den österreichischen, in ukrainischen Medien regelmäßig zitierten Militärexperten Tom Cooper besorgt aber die Lage der Stadt: Er verweist auf ernstzunehmende Meldungen, wonach die Russen jüngst Bomben direkt aus Kampfjets abgeworfen haben. Er interpretiert dies als Zeichen, dass sie den Luftraum für sicher genug erachteten und keinen Abschuss fürchteten. „Das schafft eine prekäre Situation für die ukrainische Garnison in Awdijiwka.“
Obwohl einzelne Blogger von der Gefahr einer operativen Einkreisung der Stadt sprechen, geht aber niemand von einem unmittelbar bevorstehenden Fall oder einem Rückzug aus. So rechnet der prorussische Militärexperte Juri Podoljaka im für Moskau besten Fall mit einer Verschlechterung der Situation für die Ukrainer in drei bis vier Wochen. Er schreibt, Kiew habe bereits Verstärkung geschickt und könnte den russischen Vormarsch für den Moment stoppen. Auch dies wäre ein Déjà-vu aus Bachmut.
Beschuss von Donezk
Die Kämpfe um Awdijiwka zeigen aber auch, wie wenig sich die Front im Donbass trotz Russlands Übermacht bewegt hat. Die Stadt liegt nur wenige Kilometer von der durch moskautreue Separatisten kontrollierten Metropole Donezk entfernt, die dadurch in Reichweite der ukrainischen Artillerie bleibt.
Lokale Medien berichten regelmäßig über den Beschuss auch ziviler Objekte in Donezk mit tödlicher Folge für die Bevölkerung. Die Meldungen sind im Detail nicht überprüfbar, jedoch halten sie unabhängige Beobachter für glaubwürdig.
Für die Russen ist die Vertreibung der Ukrainer aus Awdijiwka und Umgebung deshalb auch von Bedeutung, um zu zeigen, dass sie in den annektierten Gebieten des Nachbarlands für Sicherheit und Ruhe sorgen können – gerade, wenn es um jene geht, die seit bald einem Jahrzehnt unter der Kontrolle Moskaus stehen. Einige ukrainische Beobachter glauben zudem, die Russen fürchteten, die geplante Gegenoffensive könnte rasch zur Einnahme Donezks führen.
So berichtet das Handelsblatt über den Ukrainekrieg:
Ob die Stadt darüber hinaus große Bedeutung hat, ist eher zweifelhaft. Vor 2014 spielte sie als Verkehrsknotenpunkt, durch den unter anderem die Europastraße 50 verlief, eine wichtige Rolle im Ost-West-Verkehr.
Dieser ist aber ebenso zum Stillstand gekommen wie die Industrie der Stadt. 2013 betrug die Produktion des Koks-Werks noch 12.000 Tonnen pro Tag, heute ist sie eingestellt. Awdijiwka liegt größtenteils in Ruinen.
Das Gleiche gilt für viele Städte an der Donbass-Front. Die Ukrainer halten die Russen in Bachmut, Marjinka oder Wuhledar auf, um Zeit zu gewinnen, das Hinterland zu sichern und neue Verteidigungslinien zu bauen.
Auch deshalb dürfte der Wert eines Erfolgs in Awdijiwka vermutlich begrenzt sein: Einige Kilometer südwestlich und westlich stehen die befestigten Städte Kurachowe und Karliwka. Ihre Bevölkerungen wären die Nächsten, die eine humanitäre Tragödie erleben würden.
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