Salvador Argentinien kommt nicht aus der Krise. Im Gegenteil: In den vergangenen zwölf Monaten lag die Inflation in dem südamerikanischen Land erstmals seit Jahrzehnten wieder bei mehr als 100 Prozent. Für jeden Einkauf mussten die Argentinierinnen und Argentinier im Februar 2023 durchschnittlich 102,5 Prozent mehr zahlen als im Vorjahresmonat.
Sogar die Wirtschaftswissenschaft des Landes scheint inzwischen ratlos. Die meisten Ökonomen hatten damit gerechnet, dass die monatliche Inflationsrate im Februar nicht weiter steigen würde. Doch den Zahlen des nationalen Statistikamts zufolge kletterte sie den vierten Monat in Folge und lag bei 6,6 Prozent.
Zum Vergleich: In Deutschland lag die Inflationsrate für das gesamte Jahr 2022 bei 6,9 Prozent. Den deutschen Preisanstieg eines Jahres erlebt Argentinien aktuell also jeden Monat.
Zu einem gewissen Grad dürften sich die Menschen in Argentinien an die Inflation gewöhnt haben, schließlich war sie seit 2012 auf Jahressicht immer zweistellig. Doch eine Halbierung ihrer Kaufkraft binnen zwölf Monaten, wie nun der Fall, erlebte die Bevölkerung zuletzt 1991. Damals sank die Inflation aber, in den Jahren zuvor erlebte Argentinien eine Hyperinflation mit Teuerungsraten von mehr als 3000 Prozent. Um die Preisexplosion einzudämmen, koppelte die Regierung den Peso an den Dollar, und Argentinien erlebte im Anschluss eine der wenigen Dekaden seiner Geschichte mit Geldwertstabilität.
Argentinien: Inflation dürfte weiter steigen
Heute ist die Lage anders, denn die Inflation dürfte sogar noch weiter zunehmen: Mit 115 Prozent Inflation rechnet etwa JP Morgan zum Jahresende. Analyst Diego Pereira ist sicher: „Der Inflationsdruck wird weiter zunehmen.“
Argentiniens Präsident Alberto Fernández hat seit Beginn seiner Regierungszeit vor mehr als drei Jahren keine strukturellen Maßnahmen gegen die Teuerung unternommen. Stattdessen greift seine Regierung zu Preiskontrollen und versucht so, die Teuerung zu verhindern. Viele Preise für Dienstleistungen und Konsumartikel sowie Löhne und Gehälter werden von der Regierung festgesetzt, ebenso der Dollar-Peso-Wechselkurs.
Das macht es für Statistiker nicht einfach, die wahre Inflation zu ermitteln. Dennoch schätzen Investmentbanken die Kerninflation – also abzüglich der schwankenden Lebensmittelpreise – auf fast sechs Prozent im Monat.
So scheint die Regierung darauf zu hoffen, dass ein Wunder die Preissteigerungen reduziert. Nur dann könnte es ihr gelingen, die Wahlen im Oktober zu überstehen.
Doch ein Wunder ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Das argentinische Wirtschaftswachstum dürfte dieses Jahr stagnieren, denn die Landwirtschaft leidet unter einer schweren Trockenheit. Die Exporte von Mais, Weizen und Soja könnten in diesem Jahr um bis zu 20 Milliarden Dollar geringer ausfallen, ein heftiger Schock für die ganze Ökonomie: Vergangenes Jahr exportierte Argentinien insgesamt Waren für rund 90 Milliarden Dollar. Da der Staat sich zum großen Teil durch Exportsteuern auf Agrarausfuhren finanziert, sinken die Einnahmen weiter.
Argentinien bekommt keine Kredite
Das könnte verheerende Auswirkungen haben, denn Argentinien ist auf dem internationalen Kreditmarkt so gut wie isoliert. Zwar liegt das Haushaltsdefizit nur bei vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts, doch neue Schulden kann das Land kaum finanzieren – denn Banken ist das Ausfallrisiko schlicht zu hoch. Nur multilaterale Geldgeber wie der ÌWF geben Buenos Aires noch Kredit, der Fonds ist der größte Einzelkreditgeber des Landes. Netto kommt so aber auch kaum Geld ins Land, denn 2023 stehen Rückzahlungen an Zins und Tilgung in Höhe von fünf Milliarden Dollar an.
Argentinien wäre schon längst wieder zahlungsunfähig, wenn es nicht vor einem Jahr mit dem IWF ein Abkommen geschlossen hätte, um die Rückzahlung eines 44-Milliarden-Kredits abzusichern. Es ist das 22. Abkommen zwischen Argentinien und dem IWF.
Dabei überweist der Fonds genau den Betrag an fälligen Zinsen und Tilgungen, den Buenos Aires dann direkt wieder an den Fonds zurücksendet. So hat der IWF gerade eine weitere Kredittranche von 5,2 Milliarden Dollar an Argentinien gewährt, damit Argentinien seine Verbindlichkeiten in Höhe von 5,35 Milliarden Dollar im März und April leisten kann.
Auch Unternehmen bekommen auf dem Weltmarkt keine Kredite mehr, internationale Konzerne haben 2022 nur knapp 600 Millionen Dollar im Land investiert. Und das, obwohl Argentinien über eine der weltweit größten Schiefergasreserven und große Mengen an Rohstoffen wie Lithium verfügt.
Staatshaushalt wächst stärker als Wirtschaftsleistung
Ein Blick darauf, welche Sektoren Argentiniens in den letzten zehn Jahren gewachsen sind, zeigt die strukturelle Ursache der chronischen Inflation: So ist Argentiniens Wirtschaft in den 15 Jahren seit der weltweiten Finanzkrise ab 2007 gerade mal um zwölf Prozent gewachsen. Die Staatsausgaben haben jedoch im gleichen Zeitraum um 40 Prozent zugelegt. Die Exporte stagnierten, die Importe dagegen wuchsen um 37 Prozent. Kurz: Obwohl Argentinien nur schwach wächst, gibt der Staat immer mehr aus. Die Lücke füllt Argentiniens Zentralbank, indem sie ständig neues Geld druckt.
Die Argentinier dürften auf eine neue Regierung setzen, die nach den Wahlen im Oktober ins Amt kommen könnte. Neue Ideen für die Inflationsbekämpfung sind jedenfalls gefragt. Gut möglich, dass dann auch wieder Pläne zur Anbindung des Pesos an den Dollar aufkommen.
Präsident Fernández hält sich aktuell in den USA auf, wo er am Mittwoch auch US-Präsident Joe Biden treffen wird. Bei seiner Reise dürfte es um die schwierige Lage Argentiniens gehen – schließlich sitzt auch der IWF in Washington.
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