Berlin Nach vielen Anläufen soll dieser nun der letzte sein: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will mit einem digitalen „Neustart“ die Digitalisierung des Gesundheitswesens erreichen. Der Plan umfasst Vorhaben wie die elektronische Patientenakte bis 2024 sowie die Frage, wie Unternehmen leichter an Daten zur Forschung kommen.
Ein entsprechendes Gesetz wird erarbeitet. Als Lauterbach die Pläne vor wenigen Wochen vorstellte, fielen die Reaktionen größtenteils positiv bis euphorisch aus. Mit etwas Abstand aber äußern nun auch führende Experten und Instituten die Sorge, dass das Vorhaben – wie jene von Lauterbachs Amtsvorgängern – scheitert.
Der Vorsitzende der Expertenkommission für Forschung und Innovation (EFI), Uwe Cantner, erklärte Anfang der Woche auf dem Forschungsgipfel in Berlin, die digitale Wende sei nur möglich, wenn der Gesundheitsminister eng mit den anderen Ressorts zusammenarbeite. Die Ministerien müssten die verschiedenen Strategien konkret aufeinander abstimmen und auch die Verantwortung für die einzelnen Teilschritte klären.
Bisher stünden Lauterbachs eigene Digitalisierungsstrategie, die allgemeine Digitalstrategie der Ampel und ihre Zukunftsstrategie aber noch „unverbunden nebeneinander“. Zudem gebe es keine Strukturen in der Regierung für die Koordination. Das EFI hatte zuvor bereits gefordert, diese im Kanzleramt anzusiedeln.
In einer Digitalisierungs-Roadmap des EFI, die dem Handelsblatt vorliegt, heißt es, dass Lauterbachs Strategie zwar viele Ziele und Maßnahmen formuliere. „Ihr fehlen allerdings Ausführungen dazu, wie die Umsetzung erfolgen soll.“
Das EFI macht dazu konkrete Vorschläge am Beispiel des sogenannten Gesundheitsdatenraums. Deutschland ist im internationalen Vergleich Schlusslicht darin, der Forschung Gesundheitsdaten zur Verfügung zu stellen. Das ist nicht nur ein erheblicher Standortnachteil, sondern erschwert die Forschung an neuen Medikamenten und Therapien.
Deutschland gerät ins Hintertreffen
Lauterbach will dies mit einem sogenannten Gesundheitsdatennutzungsgesetz ändern. „Für die Umsetzung wird die Zusammenarbeit mit anderen Ressorts auf Bundes- und Länderebene erforderlich sein“, heißt es in der Roadmap. So müsse beispielsweise das Bundesjustizministerium für die „rechtliche Anpassung“ eingebunden werden.
Auch die Gesundheitsministerien der Länder müssten ein Rolle spielen, etwa dabei, die Krankenhäuser bei der Datenerhebung einzubeziehen. Zudem müssten die geplanten Ziele mit „detaillierteren Zeitplänen und Budgets“ hinterlegt sein.
EFI-Chef Cantner fordert, dass Lauterbach möglichst bald ein solches Gesundheitsdatennutzungsgesetz vorlege, um die Standards zu regeln. „Sonst versandet das.“ Dänemark, Finnland oder Österreich zeigten, dass ein Gesetz ohne Konflikt mit der europäischen Datenschutzverordnung DSGVO möglich sei.
Basis dafür soll die von der Ampel geplante „Opt-out-Regel“ sein, wonach Gesundheitsdaten in einer elektronischen Patientenakte gespeichert werden, solange nicht explizit widersprochen wird. Dass diese Regel etwa beim Bundesdatenschützer umstritten ist, bereitet der Branche große Sorgen.
Empört zeigte sich der Chef der Berliner Charité, Heyo Kroemer. „Es kann nicht sein, dass sie schon wieder infrage gestellt wird, obwohl es fünf vor zwölf ist“, sagte er auf dem Forschungsgipfel.
Im schlimmsten Fall drohe Deutschland „die Teslaisierung“ der Gesundheitswirtschaft: Denn wenn Deutschland es in dieser Legislatur nicht hinbekomme, alles im Gesundheitswesen, was nicht unbedingt von Menschen am Menschen gemacht werden müsse, zu digitalisieren, gebe es keine Chance, das Niveau zu halten. „Dann werden das große chinesische und US-Firmen übernehmen.“ Kroemer ist Mitglied von Lauterbachs Regierungskommission für die künftige Krankenhausversorgung.
Eine weitere Hürde sieht er im Datenschutz. Gerade deshalb sei „ein sehr starker politischer Wille nötig“, drängt Kroemer. Lauterbach plant, das Vetorecht des Bundesdatenschutzbeauftragten und des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) bei der Gesundheitsdigitalisierung zu beschneiden. Sie sollen künftig Teil eines Ausschusses sein, in dem auch Vertreter aus Medizin und Ethik über solche Entscheidungen beraten.
Auf Daten aus dem Ausland angewiesen
Die ökonomische Bedeutung der Gesundheitswirtschaft, darunter Versorgung, Forschung, Pharma- und Medizintechnikindustrie, ist enorm: Sie steht für 17 Prozent des Arbeitsmarkts, zwölf Prozent der Bruttowertschöpfung und gut neun Prozent der Exporte Deutschlands, sagte Stifterverbandspräsident Michael Kaschke. Wenn die schnelle Digitalisierung gelinge, „könnte die Bedeutung 2040 größer sein als die des Automobilbaus“.
Laut einer McKinsey-Studie könne die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft einen Nutzen von 42 Milliarden Euro schaffen, die Hälfte wegen geringerer Kosten, die Hälfte durch bessere Versorgung.
Bei der Digitalisierung der Branche geht es daher um viel mehr als nur die elektronische Patientenakte. Es könne nicht sein, dass das Mainzer Unternehmen Biontech nach Großbritannien ausweiche, weil es dort die nötigen Daten für seine Krebsmedikamente bekomme, kritisierte die Digital-Ökonomin Irene Bertschek vom Mannheimer ZEW.
Während der Coronapandemie seien Forscher und Politik auf Daten aus Israel angewiesen gewesen, um die Wirkung der Coronaimpfung zu messen. Für die Evaluierung von Impfschäden gebe es derweil gar keine Daten.
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