Stockholm So hat man Sanna Marin selten gesehen: Die finnische Regierungschefin steht vor ihren Anhängern, große leere Augen zeugen von tiefer Enttäuschung. Der Politstar aus dem hohen Norden hat die Parlamentswahlen verloren. Ihre Sozialdemokraten sind nur noch drittstärkste Partei hinter der siegreichen konservativen Nationalen Sammlungspartei von Petteri Orpo und der rechtspopulistischen Partei Die Finnen mit ihrer Vorsitzenden Riikka Purra.
Die Auftritte der 37-jährigen Marin sind normalerweise fröhlich und forsch. Selbst am Sonntagabend versuchte sie, trotz aller Enttäuschung etwas Gutes aus dem Ergebnis herauszulesen. Ihre Partei habe Stimmen hinzugewonnen, spendete sie sich selbst und ihren Anhängern Trost.
Tatsächlich ist es nicht nur in Finnland äußerst selten, dass eine Regierungspartei am Ende einer Legislaturperiode mehr Stimmen erhält als bei den Wahlen zuvor. Doch das ist Marin gelungen, ihre Sozialdemokraten kamen auf 19,9 Prozent der Stimmen, ein Plus von 2,2 Prozent. „Wir haben es gut gemacht. So ist Demokratie“, erklärte sie fast trotzig. Das Problem: Die Konservativen und die Rechtspopulisten gewannen noch mehr Stimmen hinzu.
Wie kann das sein, dass Marin, im Ausland wegen ihrer unkonventionellen Art als Politstar gefeiert, nun in die zweite oder sogar dritte Reihe zurücktreten muss?
Seit 2019 regierte sie Finnland, mit ihren Social-Media-Auftritten erreichte sie Hunderttausende, klar und deutlich sagte sie ihre Meinung. Marin gab ein anderes Politikerbild ab. Zudem meisterte sie die Corona-Krise vergleichsweise gut. Auch in der Ukraine-Krise fand sie klare Worte und führte das Land erfolgreich in die Nato.
Verschuldung stieg massiv
Politikprofessor Kimmo Grönlund von der Åbo-Akademie in Turku hat eine Erklärung für die verhaltene Reaktion der Wähler. Ihre Social-Media-Aktivitäten mit vielen privaten Bildern und Videos seien bei vielen, vor allem älteren Wählern nicht gut angekommen.
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Auch habe sie als Regierungschefin zu wenig gegen die steigende Staatsverschuldung getan. Deutlich höhere Militärausgaben nach dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine sowie die Aufrüstung der eigenen Armee wegen des Nato-Beitritts ließen die Staatsausgaben in die Höhe schnellen.
Hinzu kamen kostspielige Coronahilfen. Laut Grönlund habe sie auch Führungsschwäche innerhalb ihrer Fünf-Parteien-Koalition gezeigt. Immer wieder habe es Konflikte vor allem mit der Zentrumspartei gegeben. Da habe Marin zu zögerlich reagiert. „Führungsstärke ist die wichtigste Aufgabe, die eine Regierungschefin oder ein Regierungschef hat“, so der Politologe.
Nato-Beitritt unumstritten
Für Marin ist der Wahlverlust die bislang größte politische Niederlage. Die bei ihrem Amtsantritt 2019 jüngste Regierungschefin der Welt musste sich fast unmittelbar nach der Übernahme der Regierungsmacht mit der Bekämpfung der Corona-Pandemie befassen.
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Seit vergangenem Jahr beherrschte dann der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine die Tagesordnung. Finnland teilt sich eine über 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland. Die geografische Nähe zum Aggressor führte zu einer vollständigen Kehrtwende der über Jahrzehnte verfolgten Neutralitätspolitik des Landes.
Marin schwor ihre Landsleute erfolgreich auf die Aufgabe der Bündnisfreiheit ein. Heute sind mehr als 80 Prozent der Finninnen und Finnen für die Nato-Mitgliedschaft, die am Dienstag mit einer feierlichen Zeremonie in Brüssel offiziell besiegelt wird.
Zu ihrer eigenen Zukunft hat sich Marin noch nicht eindeutig geäußert. Es gibt Spekulationen, nach denen sie möglicherweise ein internationales Amt anstrebt.
Viel wird von den Regierungsbildungsverhandlungen abhängen. Denn der 53-jährige Petteri Orpo hat zwei Optionen: Er könnte eine Koalition mit den Rechtspopulisten anstreben oder eben mit Marins Sozialdemokraten. Anders als in den anderen nordischen Ländern gibt es in Finnland keine Bedenken gegenüber einer „großen Koalition“.
Einfach wird die Regierungsbildung aber nicht. Denn Orpo gilt als überzeugter EU-Fan, während die Partei Die Finnen äußerst EU-skeptisch ist. Auch in der Einwanderungspolitik gibt es große Gegensätze. Während Konservative und auch die meisten anderen Parteien wegen großer demografischer Probleme eine Zuwanderung von Arbeitskräften ausdrücklich begrüßen, poltern die Rechtspopulisten gegen eine liberalere Einwanderungspolitik.
Die Rechtspopulisten erzielten das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Selbstbewusst wird Spitzenkandidatin Riikka Purra in eventuelle Koalitionsverhandlungen gehen. Der Erfolg der Partei liegt vor allem an ihr. Die 45-jährige Purra postete nahezu täglich ihre Botschaften auf Tiktok. Mit frisch wirkenden Videos in einfacher Sprache traf sie offenbar den Zeitgeist auch bei jungen Wählern.
Auch Die Finnen wollen regieren
Purra hat ihrer Partei zuletzt ein gemäßigtes Image gegeben. Dennoch wird sich Wahlsieger Orpo genau überlegen, ob er mit der Partei eine Koalition eingehen will, die noch vor wenigen Jahren deutlich rechtsextremer aufgestellt war.
Aber auch eine Koalition mit den Sozialdemokraten birgt Sprengstoff. „Die Wirtschafts- und Steuerpolitik von Marin unterscheidet sich deutlich von dem Programm der Konservativen“, sagt Politologe Grönlund.
Orpo hatte im Wahlkampf Steuersenkungen angekündigt und zudem Ausgabenkürzungen von rund neun Milliarden Euro, um die Verschuldung der öffentlichen Hand in den Griff zu bekommen. Marins Sozialdemokraten treten hingegen für Steuererhöhungen für Besserverdienende ein und lehnen Kürzungen im Sozialbereich ab.
Eine Koalition der beiden Parteien will Orpo trotz der Gegensätze nicht völlig ausschließen. „Nichts ist unmöglich in Finnland, wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass im Prinzip alle mit allen können.“
In Helsinki wird mit langen Koalitionsverhandlungen gerechnet, zumal Orpo neben Rechtspopulisten oder Sozialdemokraten noch mindestens eine weitere der kleineren Parteien für eine Mehrheit im Parlament benötigt. Sollte sich Orpo für eine große Koalition mit den Sozialdemokraten entscheiden, wird Sanna Marin aller Voraussicht nach ein wichtiges Amt im Kabinett übernehmen. Anderenfalls könnte die europäische Bühne locken.
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