Rom Lächelnd sitzt er am Esstisch, vor ihm Zeitung, Textmarker, Weinglas, Telefon. Einer seiner letzten persönlichen Twitter-Posts zeigt Silvio Berlusconi so, wie ihn die Italiener in Erinnerung behalten sollen: ein Lebemann, aber immer pflichtbewusst, immer am Strippenziehen. „Ich arbeite bereits wieder an den wichtigsten Themen dieser Tage, bereit und entschlossen, mich wie immer für das Land einzusetzen, das ich liebe“, schrieb er Ende März unter das Bild – und bedankte sich für die Genesungswünsche, die er zuletzt so zahlreich erhalten habe.
Damals kam der 86-Jährige gerade aus dem Krankenhaus zurück in seine Villa außerhalb Mailands. Im April verschlechterte sich sein Zustand aber dramatisch: Atemnot, Lungenentzündung, zwei Wochen Intensivstation. Erst nach 45 Tagen wurde Berlusconi entlassen.
Doch schon Ende vergangener Woche wurde er erneut eingeliefert – und hat das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen: Am Montagmorgen ist einer der größten und umstrittensten Politiker Italiens der vergangenen Jahrzehnte gestorben.
Der Sohn eines Bankers studierte in Mailand Jura, verdiente sich nebenbei sein erstes Geld als Staubsaugervertreter und Sänger in Klubs und auf Kreuzfahrtschiffen. In den Sechzigern gründete er seine ersten Unternehmen im Bausektor, 1972 stieg er mit einem kleinen Mailänder Lokalsender ins Fernsehgeschäft ein. In den Achtzigern wuchs seine TV-Gruppe Mediaset zum mächtigsten Privatsender heran.
Mittlerweile in Media for Europe (MFE) umbenannt, ist die Firma auch in Spanien und Deutschland aktiv, mit gut 30 Prozent an Pro Sieben Sat 1 beteiligt. Über seine Holding Fininvest gehörten Berlusconi auch die Mehrheit am größten italienischen Verlag Mondadori und gut ein Drittel der Anteile der Bank Mediolanum.
In die Politik zog es Berlusconi aber wegen seines Senders: Anfang der Neunziger wollten italienische Parlamentarier die Macht von Mediaset beschneiden. Der „Cavaliere“, der Ritter, wie er seit der Verleihung des Arbeitsverdienstordens genannt wurde, gründete 1994 prompt seine eigene Partei. Nach einem der größten Korruptionsskandale in Italiens Geschichte brach die christdemokratische Partei zusammen – und Berlusconi versuchte mit seiner Forza Italia (FI) nach den Wählern aus dem Zentrum und von Mitte-rechts zu fischen.
Das gelang, auch dank seiner Medienmacht: Er holte bei der Parlamentswahl auf Anhieb 21 Prozent und ließ sich mit den Stimmen der rechten Lega Nord und der postfaschistischen Alleanza Nazionale zum Premier wählen. Das erste rein rechte Bündnis nach Kriegsende hielt aber nur ein halbes Jahr.
Giorgia Meloni ist sein Vermächtnis
Doch damit war Berlusconi auf der politischen Bildfläche – und verschwand nicht mehr. Drei weitere Male wurde er zum Ministerpräsidenten gewählt, zuletzt von 2008 bis 2011. Damals holte er eine junge und noch unerfahrene Politikerin in sein Kabinett: Giorgia Meloni. Unter ihm wurde sie Jugendministerin – der Grundstein für ihre steile Karriere, die sie im Herbst vergangenen Jahres aller postfaschistischen Wurzeln zum Trotz zur Regierungschefin gemacht hat.
September 2022, Wahlkampffinale der Rechten auf der Piazza del Popolo, einem der größten Plätze Roms. Berlusconi stützt sich auf Lega-Chef Matteo Salvini und Meloni, kann kaum noch selbst zum Rednerpult laufen. Mit seinem fast eingemeißelt wirkenden Dauerlächeln, das Gesicht wie immer stark geschminkt, steht Berlusconi vor der Menschenmenge, liest vom Teleprompter ein Loblied auf sich selbst: Er habe niemals die Steuern erhöht, sich immer für die Freiheit der Bürger eingesetzt, nur wenige illegale Migranten ins Land gelassen.
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Es hätte sein letzter großer Auftritt werden können, sein politisches Vermächtnis. Er hätte an diesem Herbstabend endgültig das Zepter an Salvini und Meloni übergeben können, die das rechte Lager schon seit Jahren dominieren – und mit ihren Parteien zahlenmäßig deutlich an Forza Italia vorbeigezogen sind. Doch Berlusconi wollte bis zuletzt nicht aufhören, wollte mitmischen, auch mit 86 Jahren und eingeschränkter Gesundheit.
Aus dem Krankenhaus heraus soll er sich selbst bei regionalen Parteisitzungen hinzugeschaltet haben. Vor einigen Monaten erklärte er noch in einem Interview mit dem „Corriere della Sera“: „In der Partei entscheide noch immer ich.“ Zwar hatte Berlusconi zuletzt kein Ministeramt, das hinderte ihn aber nicht daran, sich lautstark in klassischen und sozialen Medien zu Wort zu melden. Mehrmals verteidigte er seinen guten Freund Wladimir Putin – und machte den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski für den Krieg in der Ukraine verantwortlich.
Für Meloni kam das mehr als ungelegen, hatte sie sich doch schon im Wahlkampf klar zur Ukraine bekannt, sprach sich für Waffenlieferungen aus, fuhr im Februar gar persönlich nach Kiew. Als sie Selenski am Rande eines EU-Gipfels das erste Mal persönlich traf, ließ Berlusconi nur verlauten: „Wäre ich Premier, hätte ich Selenski nicht getroffen.“ Die Diplomaten im Außenamt versuchen sich seitdem im Wogenglätten; Berlusconis Worte seien „ein Schaden für Italien“, erklärte ein Berater Selenskis.
Anklagen, Prozesse, Skandale
Berlusconi, der laut „Forbes“ mit einem geschätzten Vermögen von sieben Milliarden Dollar zu den reichsten Italienern zählte, nahm in seiner Karriere nie ein Blatt vor den Mund. Er liebte es, zu scherzen, zu polarisieren – dafür mochten ihn viele Landsleute. Zeitweise gehörte ihm auch der AC Mailand, einer der beiden großen Fußballclubs der Finanzmetropole. Er inszenierte sich gern als Mann des Volks, mit weiß-rotem Schal im Stadion.
Wegen seiner charmanten und einnehmenden Art verzieh ihm die Öffentlichkeit auch diverse Fehltritte und Skandale. Er umgab sich gern mit hübschen und jüngeren Frauen, machte 2008 ein ehemaliges Model zur Gleichstellungsministerin. Zweimal war Berlusconi verheiratet, hinterlässt fünf Kinder, 2012 verlobte er sich mit einem 50 Jahre jüngeren Showgirl. Seit 2020 war er mit der Abgeordneten Marta Fascina zusammen, Jahrgang 1990.
Mehrmals wurde Berlusconi angeklagt: wegen Schmiergeldzahlungen, Bilanzfälschungen und der Bestechung von Richtern. Die meisten Prozesse verjährten oder wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt. Rechtskräftig verurteilt wurde er unter anderem wegen millionenschwerer Steuerhinterziehung. 2013 verlor er daher kurzzeitig seine politischen Ämter und seine Immunität. Eigentlich hätte er vier Jahre im Gefängnis sitzen müssen – musste die Haft aber wegen seines hohen Alters nicht mehr antreten.
Bis zuletzt liefen noch mehrere Verfahren gegen ihn: Am skandalträchtigsten war der Prozess, der als „Bunga-Bunga“ in die Geschichte einging. Berlusconi soll Prostituierte in seine Villa eingeladen haben, darunter Minderjährige – und zahlte den Frauen offenbar Schweigegeld. 2017 wurde er angeklagt, weil er Zeugen mit zehn Millionen Euro bestochen haben soll. Erst im Februar sprach ein Mailänder Gericht Berlusconi in dem Korruptionsprozess frei.
Seit Längerem gesundheitlich angeschlagen
Berlusconis Geschichte ist „größer als das Leben“, sie sei unwiederholbar. Diese Worte stammen von Carlo Calenda, einem politischen Gegner aus der Opposition. Von ganz rechts bis ganz links, überall bekam Berlusconi in seinen letzten Tagen Zuspruch, Genesungswünsche, Bestätigung. Welches Gewicht sein Wirken im Land hat, zeigte auch ein Blick auf die großen Zeitungen: Schon zur Krankenhaus-Einweisung im April starteten sie alle Live-Ticker über den Gesundheitszustand, listeten akribisch Berlusconis Krankheitsakte auf.
Seit Längerem war der Milliardär angeschlagen, im September 2020 bangte das Land um ihn, als er sich mit Corona infizierte und anschließend wegen einer Lungenentzündung zehn Tage im Krankenhaus verbrachte. Berlusconi sprach im Anschluss davon, Todesangst gehabt zu haben. Schon 2019 wurde er wegen eines Darmverschlusses operiert, 2016 gar am offenen Herzen.
Es ist noch zu früh, um abzusehen, wohin seine Unternehmen und vor allem seine Partei nun steuern werden. Bei Fininvest übernahm seine Tochter Marina Berlusconi offiziell schon 2005 die Geschäfte. Bei Forza Italia ließ Berlusconi aber niemanden neben sich zu – bis zuletzt war er noch Parteichef.
Spekuliert wird, dass Außenminister und Parteivize Antonio Tajani nun übernehmen könnte. Er war stets ein treuer Anhänger Berlusconis. Es gibt aber einige Parteikollegen, die genau das nicht wollen. Es könnte zu einem internen Machtkampf kommen.
Dass ausgerechnet Ende März in London ein Musical namens „Berlusconi“ seine Premiere feierte, ist zeitlich dem Zufall geschuldet. Darin werden Songs wie „Mein Wochenende mit Putin„ oder „Bunga-Bunga“ performt. Berlusconis Geschmack, der zuletzt sogar auf Tiktok unterwegs war, dürfte das getroffen haben: Er lechzte nach Likes und Anerkennung, auch noch auf seine alten Tage.
Einer seiner letzten persönlichen Instagram-Posts datiert auf Palmsonntag. Er steht lächelnd im Garten seiner Villa, dunkelblauer Anzug, eine Hand in Richtung Kamera ausgestreckt. Hinter ihm ist alles voller bunter Tulpen. „Heute ist Palmsonntag, aber für mich ist es auch das Fest aller Blumen“, schreibt er unter dem Foto. Er wolle versuchen, die Tulpen besser im Fernsehen zu zeigen. „Bis dahin tulpe ich euch“, scherzt er. „Oh nein, ich habe mich vertan: Ich grüße und umarme euch alle!“
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