Mexiko-Stadt In Kuba weiß jeder, was der Ausdruck „Cola fantasma“ bedeutet. Es ist so etwas wie Schlange stehen für alle Fälle. Falls es einmal Sprit gibt oder Hühnchen oder Klopapier oder irgendetwas von dem, was jede Kubanerin und jeder Kubaner braucht, was auf der kommunistisch regierten Karibikinsel aber manchmal so selten ist wie eine Schneeflocke.
Schlange stehen ist für den Großteil der elf Millionen Insulaner fast zu einer Vollzeitbeschäftigung geworden. Aber oft genug bleibt dann die angesagte Lieferung aus – ein Phantom eben.
Kuba leidet unter der schwersten sozioökonomischen Krise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor fast einem Vierteljahrhundert. Diese seit der Pandemie geltende Gewissheit verschlimmert sich immer weiter.
Stromabschaltungen, Benzinknappheiten und Nahrungsmittelengpässe erinnern immer mehr an die frühen 1990er-Jahre, als Revolutionsführer Fidel Castro nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die „Período especial“ ausrief.
Damals hieß es, den Gürtel bis aufs letzte Loch zu schnallen. So ist es auch gut drei Jahrzehnte später wieder. Nur haben die Menschen auf der Insel heute keine Geduld mehr – und noch weniger Verständnis für die Regierung.
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In dieser Woche hat das Parlament den amtierenden Präsidenten Miguel Díaz-Canel mit fast 98 Prozent der Stimmen für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Der erste Staatschef der kommunistischen Karibikinsel der Nach-Castro-Ära hat die in ihn gesetzten Hoffnungen eines Reformers nicht erfüllt. In seiner Antrittsrede äußerte der Präsident Verständnis für den Frust seiner Landsleute. Er sei sich bewusst, dass vor allem für junge Menschen die Lage gravierend sei.
Díaz-Canel will zur Bewältigung der Krise „die Nahrungsmittelproduktion ankurbeln, die Investitionen effizienter und die maroden sozialistischen Staatsunternehmen konkurrenzfähig machen“. Die Inflation soll vorrangig bekämpft werden. „Wir müssen die gigantische Herausforderung annehmen, ohne uns entmutigen zu lassen“, sagte Díaz-Canel.
Kaum mehr Öl aus Venezuela
Aber immer weniger glauben den Worten des Präsidenten, dass alles nur ein vorübergehender Engpass sei. Die Krise in Kuba ist längst chronisch. Viele Probleme kommen zusammen: Inflation, reduzierte Öllieferungen aus Venezuela, Devisen- und Nahrungsmittelnot ebenso wie ausbleibende Urlauber, Misswirtschaft und das weiterhin gültige US-Wirtschaftsembargo.
Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) kalkuliert das Wirtschaftswachstum der Insel für dieses Jahr auf 1,8 Prozent. Die Regierung in Havanna aber behauptet unbeirrt, das Bruttoinlandsprodukt werde um drei Prozent wachsen. Dabei steht das Land am Rande des Zusammenbruchs.
Vor allem die galoppierenden Preise und immer weniger Energiehilfe vom klammen Bruder aus Venezuela verschlimmern die Lage. Vergangenes Jahr gingen die Öllieferungen Venezuelas nach Kuba noch mal um sechs Prozent auf 53.600 Barrel pro Tag zurück, früher sandte Caracas mehr als das Doppelte.
Nach Ostern gab es wieder einmal kein Benzin. Und so brachen der Nahverkehr und das Transportwesen nahezu komplett zusammen. Autobesitzer und vor allem Taxifahrer standen und stehen tage- und nächtelang Schlange vor den Tankstellen der Hauptstadt Havanna in der Hoffnung, dass irgendwann einmal ein Tanklaster kommt, der den ersehnten Sprit bringt.
Die Inflation ist hoch, der Euro kostet auf dem Schwarzmarkt inzwischen 190 Peso statt den 122 zum offiziellen Kurs. Für ein staatliches Gehalt kann man nicht einmal ganz den Kühlschrank füllen. Immer mehr Menschen haben genug und verlassen die Insel. Allein im vergangenen Jahr sollen gut 300.000 Kubaner und Kubanerinnen über Mexiko ohne Papiere in die USA eingereist sein. Im Jahr 2021 waren es noch 39.000.
„Uns geht es so schlecht wie nie“, ist eine Klage, die man immer wieder hört auf der Insel. „Wenn es nicht am Sprit fehlt, dann gibt es keinen Strom, ist der mal da, gibt es nichts zu essen zu kaufen. Das ist zyklisch und unendlich“, sagt ein junger Mann, der nicht genannt werden möchte.
Zahl der Kuba-Touristen bleibt weit hinter den Plänen zurück
Dabei sieht es in den Provinzen noch finsterer aus als in der Hauptstadt. Deshalb ziehen die Menschen nach Havanna. Doch die Binnenmigration hat dort zu einer Überbevölkerung geführt. Diejenigen, denen die Regierung keine Wohnungen zur Verfügung stellen kann, leben in „Albergues“, in verlassenen Gebäuden, die zu provisorischen Wohnungen umfunktioniert wurden. Andere in den alten sozialistischen Mietskasernen, die zum Teil vom Einsturz bedroht sind.
Die Situation im Frühling 2023 ist besonders kompliziert für die Menschen auf der Insel, denn die so lang ersehnte und versprochene Erholung bleibt aus. Das zeigt ein Blick auf den Tourismus, die zweitwichtigste Devisenquelle der Insel. 2022 besuchten 1,04 Millionen Ausländer Kuba, das war nur ein gutes Drittel (38 Prozent) der Besucher des Jahres 2019. Das staatliche Ziel war es aber, 2,5 Millionen ausländische Touristen anzulocken.
Besonders das fast völlige Ausbleiben russischer Urlauber seit dem Ukrainekrieg und das deutlich reduzierte Aufkommen von US-Touristen trafen den Sektor hart. Die meisten Besucher kommen nach wie vor aus Kanada.
Für 2023 strebt das Tourismusministerium 3,5 Millionen Besucher an. Die Zahl scheint illusorisch, auch angesichts der angespannten Versorgungslage und der ständigen Stromausfälle und Spritknappheit, die einen geplanten Luxus- oft zu einem Abenteuerurlaub machen. Das hat sich mittlerweile auch bei den Reiseveranstaltern herumgesprochen.
Ökonomen fordern drastische Reformen in Kuba
Ökonomen urteilen übereinstimmend, dass die kubanische Krise strukturell ist und nicht konjunkturell. Es sei eine Krise des Systems, sagt etwa Pavel Vidal, der an der katholischen Javeriana-Universität im kolumbianischen Cali lehrt. Er fordert genau wie der Wirtschaftswissenschaftler Omar Everleny wirkliche Reformen – vor allem die Liberalisierung der Wirtschaft. Eine Flickschusterei am System der Planwirtschaft und der Staatsbetriebe in zentralen Sektoren bringe langfristig keine Erleichterung. „Es geht um Leben und Tod, es ist eine Frage von höchster Priorität“, warnt Wirtschaftswissenschaftler Everleny.
Für Vidal führt der Weg aus der Krise über ein weitreichendes makroökonomisches Stabilisierungsprogramm, um die Inflation zu stoppen und so ein günstigeres Szenario für das Wirtschaftswachstum zu schaffen. „Dies muss Sparmaßnahmen und Änderungen in der Geld- und Wechselkurspolitik, aber auch strukturelle und institutionelle Veränderungen umfassen.“
Everleny zufolge wurde vor zwei Jahren zwar „endlich das Gesetz verabschiedet“, das die Gründung von mehr als 7000 kleinen und mittleren Privatunternehmen ermöglichte, die auch mittlerweile knapp 200.000 Menschen in Lohn und Brot gebracht haben. Aber damit diese privaten Kleininitiativen zu einem dynamischen Faktor werden könnten, müssten Hindernisse wie hohe Steuern und übermäßige Bürokratie beseitigt werden. Zudem brauche es einen offiziellen Devisenmarkt, der es neuen Unternehmern ermögliche, sich das Geld zu besorgen, das für den Betrieb eines Unternehmens nötig sei.
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Andere Experten hingegen halten das „System Kuba“ für nicht reformierbar und dem Untergang geweiht – entweder durch sozialen Protest wie im Sommer 2021, der irgendwann doch zu einem Regimewechsel führen könnte, oder durch Auswanderung. Allein in den vergangenen rund fünf Jahren hat ein Zehntel der Bevölkerung das Land verlassen. Und es gehen nicht die Alten und Kranken, sondern die Jungen, die gut Gebildeten, die für sich keine Perspektive mehr auf der Insel sehen.
Immerhin ist kurzfristig ein wenig Abhilfe bei der Energieversorgung in Sicht. In Venezuela wird gerade ein Megatanker mit Rohöl und Treibstoff für Kuba beladen. Dabei handelt es sich um eine ungewöhnlich große Menge, um dem politischen Verbündeten bei der Überwindung seiner Energiekrise zu helfen. Der unter panamaischer Flagge fahrende Supertanker Nolan soll mit 400.000 Barrel Heizöl für die Stromerzeugung und 1,13 Millionen Barrel Schweröl spätestens Ende des Monats Richtung Kuba auslaufen.
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