Apr 19, 2023
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Erdgas aus dem Schwarzen Meer: Die Türkei will zum europäischen Erdgas-Drehkreuz werden

Written by Ozan Demircan


Istanbul In Zonguldak, einem unwirtlichen alten Industriestädtchen an der türkischen Schwarzmeerküste, will Präsident Recep Tayyip Erdogan die Wahl gewinnen – mit Erdgas. Noch im April wird die Türkei zum ersten Mal in ihrer Geschichte Erdgas aus dem eigenen Kontinentalschelf im Schwarzen Meer in das heimische Netz einspeisen. An diesem Donnerstag wird die Anlage dafür eingeweiht.

Mehr als 710 Milliarden Kubikmeter Erdgas sollen hier lagern. Das ist mehr als genug, um das eigene Land 15 Jahre mit Erdgas zu versorgen. Doch die Regierung hat größere Pläne. „Wir hoffen, einen Teil des Erdgases nach Europa zu exportieren“, sagt Melih Han Bilgin, der Vorstandschef des staatlichen Mineralölkonzerns TP.

Für den Energieimporteur Türkei mit einem chronischen Leistungsbilanzdefizit ist das eine wichtige Wendung. Und für Erdogan ein zentrales Beispiel für die Errungenschaften seiner Partei AKP.

Allein für Energieimporte bezahlt die Türkei bisher jährlich 97 Milliarden US-Dollar. „Die jährlichen Ausgaben für Erdgas belaufen sich in der Türkei auf etwa 12,5 Milliarden Dollar“, heißt es in einer Analyse der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul. „Davon könnten nun jährlich vier bis fünf Milliarden Dollar eingespart und die Gesamtausgaben somit um mindestens ein Drittel gesenkt werden.“

Das Sakarya-Erdgasfeld wird in seiner ersten Phase zehn bis 15 Millionen Kubikmeter pro Tag liefern. Das würde bereits ausreichen, um alle Wohngebäude im Land zu beheizen. In der zweiten Phase soll die geförderte Menge bis 2028 auf einen Spitzenwert von 40 Millionen Kubikmetern pro Tag steigen, sagt TP-Vorstandschef Bilgin. Die Menge entspräche fast dem gesamten Erdgasverbrauch in der Türkei.

Damit kann die Türkei Europas Erdgassorgen zwar nicht vertreiben, aber zumindest ein Stück weit abschwächen. Denn eine Gasmangellage im kommenden Winter ist nicht ausgeschlossen. Russland hat wichtige Pipelinegasflüsse in die Europäische Union nach der Invasion in die Ukraine eingestellt.

Vor allem kleinere Länder auf dem Balkan, die von russischen Lieferungen abhängig sind und weniger verbrauchen als Schwergewichte wie Deutschland, könnten künftig Gas aus der Türkei statt aus Russland beziehen. Der politische Druck, den der Kreml auf die Länder in Südosteuropa ausübt, würde dadurch sinken.

Türkei unterzeichnete Gas-Abkommen mit Bulgarien

Und so denkt die Regierung von Staatschef Erdogan bereits laut darüber nach, das Erdgas an andere Länder zu verkaufen. „Bulgarien könnte Erdgas aus dem Schwarzen Meer erhalten“, sagt TP-Chef Bilgin etwa.

Das ärmste EU-Mitglied Bulgarien war jahrelang fast ausschließlich von russischen Erdgaslieferungen abhängig. Im April 2022, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, verweigerte die Regierung in Sofia die Forderung Moskaus, die Energieimporte in der russischen Währung Rubel zu bezahlen. Seitdem sucht Bulgarien händeringend nach Alternativen.

>> Lesen Sie hier: Türkei und Russland – Moskaus Angst vor der Entfremdung

Anfang Januar unterzeichneten Bulgarien und die Türkei ein Abkommen. Demnach kann Bulgarien bis zu 1,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas oder Flüssiggas aus Drittländern über türkische Terminals ins eigene Land befördern. Nun kann die Türkei auch anbieten, eigenes Gas nach Bulgarien zu liefern.

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Die Infrastruktur ist vorhanden: Mehrere Pipelines verbinden die Gasfelder der Türkei und auch Aserbaidschans mit potenziellen Abnehmern in Südosteuropa. Auch andere Länder auf dem Balkan könnten daher vom türkischen Gas profitieren. Die Republik Moldau hatte schon vor Beginn des Ukrainekriegs Streit mit Russland über Erdgaslieferungen und sucht Alternativen.

Ungarn und Russland haben 2021 einen 15-Jahres-Vertrag über die Lieferung von bis zu 4,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas unterzeichnet und im April bestätigt. Die Regierung in Budapest setzt damit trotz Ukrainekrieg auf russisches Erdgas, könnte aber von der Europäischen Kommission dafür bestraft werden. Weil das russische Erdgas über die türkische Turkstream-Pipeline nach Ungarn gelangt, könnte auch Ungarn bald auf türkisches Erdgas umsteigen.

Auch die serbische Regierung, die gute Kontakte zum Kreml unterhält, will ihre Gasversorgung diversifizieren und baut eine Pipeline nach Bulgarien, die von der EU mitfinanziert wird. Und der Energieversorger SPP in der Slowakei will seine Abhängigkeit von russischem Erdgas ebenfalls weiter verringern.

Türkei könnte zum Erdgashub werden

Die Ausbeutung des Erdgasfelds würde die Verhandlungsposition Ankaras auf dem internationalen Erdgasmarkt stärken, wenn neue Verträge unterzeichnet werden. „So scheint sich das Land in Richtung einer Verringerung der Energieabhängigkeit und Diversifizierung seiner Ressourcen zu bewegen“, fassen die Autorinnen und Autoren in der Analyse der Friedrich-Naumann-Stiftung zusammen.

„Wenn wir Erdgas exportieren, stärken wir unsere Verhandlungsposition und könnten sogar eine Rolle dabei spielen, den Erdgaspreis in der Region festzusetzen“, sagt TP-Vorstandschef Bilgin.

Zugleich will die Türkei auch Handelsdrehkreuz für importiertes Erdgas werden, wie der türkische Energieminister Fatih Dönmez ankündigt. „Unser Ziel ist es, Lieferanten- und Verbraucherländer zusammenzubringen und das Gashandelszentrum zu werden, in dem der Benchmark-Preis für Gas festgelegt wird“, sagte er vor einigen Wochen.

>> Lesen Sie hier: Erdogan überrascht mit einem außenpolitischen Kurswechsel

Zwischen Gasfund und Eröffnung der neuen Offshore-Pipeline im Schwarzen Meer liegen knapp vier Jahre. Entwickelt haben die Türken das Projekt mit Schlumberger, dem weltweit größten Unternehmen für Erdölexplorationen, und dem auf die Ölindustrie spezialisierten Ingenieurbüro Subsea 7. Die reine Bauzeit betrug zwölf Monate, erklärt der Bauleiter des Projekts, Murat Acar. „Ich habe weltweit viele Projekte begleitet“, sagt er. „Aber so schnell ging es noch nie.“

Das Investitionsvolumen beläuft sich laut Vorstandschef Bilgin auf 1,8 Milliarden US-Dollar, die die Türkei allerdings schon im ersten Jahr der Ausbeutung des Gasfelds wieder einholen dürfte.

Mehr: Wahlkampfhilfe aus Washington – Türkei erhält F16-Teile



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