Brüssel Es ist ein gewaltiger Kraftakt, mit dem die EU der Ukraine seit einem Jahr dabei hilft, ihr Getreide zu exportieren. Da das Verschiffen über die Häfen am Schwarzen Meer nicht im gleichen Maße funktioniert wie vor dem Krieg, investieren die Europäer in Gleise, Züge und Binnenschiffe, um möglichst viel von den kostbaren Futter- und Nahrungsmitteln zu retten.
Aus Brüsseler Sicht sind diese Investitionen eine einzige Erfolgsgeschichte. Vor dem Krieg kamen pro Jahr 5800 Tonnen Mais aus der Ukraine nach Polen. Im Jahr 2022 waren es 1,84 Millionen Tonnen – mehr als das 300-Fache. Die Einfuhr von Weizen stieg von 2800 auf 500.000 Tonnen.
Aus Sicht polnischer Bauern sind die Zahlen jedoch eine Bedrohung ihrer Lebensgrundlage. Der Markt wird überschwemmt von ukrainischem Getreide, was die Preise fallen lässt. Seit die EU im vergangenen Jahr alle Einfuhrzölle aufgehoben hat, genießt die Ukraine unbeschränkten Zugang zum Binnenmarkt.
Diese Woche verkündeten Polen, Ungarn und die Slowakei einen Importstopp für ukrainisches Getreide – als Sofortmaßnahme gegen das Überangebot. Rumänien und Bulgarien forderten ebenfalls eine Lösung von der EU.
Der Alleingang der osteuropäischen Länder ist eine direkte Herausforderung der EU-Kommission, denn die Handelspolitik fällt in die Zuständigkeit Brüssels. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) fordert ein sofortiges Ende der Getreideblockade und will den Staaten im Gegenzug entgegenkommen.
In einem Brief an die fünf Regierungen kündigte sie an, die EU werde einen Notfallmechanismus nutzen, um die Importe wieder zu beschränken. Außerdem will sie betroffenen Bauern finanziell helfen. Zusätzliche 100 Millionen Euro sagte von der Leyen zu. Auch will die Kommission dafür sorgen, dass das Getreide aus den osteuropäischen Ländern weitertransportiert wird.
Kommission will Getreidetransport organisieren
Bisher kommt das Getreide zwar aus der Ukraine heraus, aber der Weitertransport zu europäischen Seehäfen ist kompliziert und teuer. Lastwagen, Züge und sogar Binnenschiffe haben nicht die gleichen Kapazitäten wie die Ozeanriesen, die normalerweise das ukrainische Getreide nach Afrika und Lateinamerika bringen. Auf der Europaroute steigen die Kosten auf 40 Prozent des Endpreises, sagt eine hohe Kommissionsbeamtin. Normalerweise seien es nicht mehr als zehn Prozent.
Spanien, das im vergangenen Jahr eine schwache Ernte hatte, schickte sogar staatlich gefördert einen Zug an die ukrainische Grenze, um auszutesten, ob eine Direktverbindung nicht doch lohnend wäre. Das Experiment wurde wegen der exorbitanten Kosten nicht wiederholt.
In Brüssel wird nun diskutiert, dass die EU das ukrainische Getreide aufkauft und an die Abnehmerländer liefert. „Das Getreide muss da ankommen, wo es gebraucht wird, nicht da, wo es zu Überschüssen und Dumpingpreisen führt“, sagt der rumänische Europaabgeordnete Siegfried Muresan. Die EU müsse den Weitertransport aus den ukrainischen Nachbarländern sicherstellen.
Getreideexporte in die EU bringen 26 Milliarden Euro
Für die Ukraine ist der Getreideexport in die EU lebenswichtig. Allein im vergangenen Jahr hätten die Unternehmen damit 26 Milliarden Euro eingenommen, sagte eine Kommissionsbeamtin – und damit deutlich mehr als die 17 Milliarden Euro, die über Wirtschaftshilfen der EU ins Land kamen.
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Ein Wegbrechen dieser Einnahmen würde das Land schwer treffen – und das Drohpotenzial Russlands erhöhen. Moskau droht regelmäßig damit, das Abkommen für den Getreideexport über das Schwarze Meer nicht zu verlängern. Aktuell läuft es Mitte Mai aus.
Deshalb laufen nun die Verhandlungen über eine europäische Lösung. Ein Gespräch von Kommissionsvize Valdis Dombrovskis mit den fünf Staaten am Mittwoch brachte noch keinen Durchbruch. David Kleimann vom Brüsseler Institut Bruegel sagt: „Es ist viel Druck im Kessel.“ Von der Leyen habe „relativ umfassende Maßnahmen“ angekündigt, aber die beteiligten Regierungen versuchten nun, möglichst viel für ihre Bauern herauszuholen. In Polen stünden im Herbst Wahlen an. Er erwarte aber, dass der Streit in den kommenden Tagen beigelegt werde.
Getreidestreit ist Realitätscheck für Beitrittsbefürworter
Die entscheidende Frage wird sein, wie der Weitertransport des Getreides organisiert werden kann – und wie teuer dies für die EU wird. „Die EU-Staaten haben gemeinsame alternative Handelsrouten für die Exporte aus der Ukraine beschlossen“, sagt Kleimann. „Dass die Nachbarn die Belastungen nicht allein tragen wollen, ist verständlich. Die EU sollte daher für die Konsequenzen einstehen.“
Der Streit um das Billiggetreide ist auch ein Realitätscheck für die Befürworter eines schnellen EU-Beitritts der Ukraine. Er gibt einen Vorgeschmack darauf, welche Verteilungskonflikte zu erwarten sind, wenn die Agrarnation mit ihren riesigen Landwirtschaftsbetrieben im Binnenmarkt ist. Die Ukraine ist weltweit einer der größten Produzenten von Weizen, Mais und Gerste.
Für den Abgeordneten Muresan ist klar: „Die Annäherung der Ukraine an die EU wird dauern. Die ukrainische Wirtschaft muss sich von Grund auf erneuern und an westeuropäische Standards anpassen, bevor der Beitritt erfolgen kann.“
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