Berlin Die von der Ampelkoalition beschlossene Reform der Erwerbsminderungsrenten wird das Armutsrisiko der Betroffenen zwar spürbar senken. Es liegt aber trotz zusätzlicher Milliarden immer noch fast doppelt so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Dies zeigt eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die dem Handelsblatt vorab vorliegt.
Erwerbsminderungsrenten bekommen Menschen, die wegen eines Unfalls, einer Erkrankung oder Behinderung nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeiten können. Die Vorgängerregierungen der Ampel hatten in den Jahren 2014 und 2019 Leistungsverbesserungen durchgesetzt, allerdings jeweils nur für neue Rentner.
Die im ersten Rentenpaket von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) enthaltene Reform zielt nun auf die Bestandsrentner, die zum Teil schon seit vielen Jahren Erwerbsminderungsrenten beziehen. Ab Juli 2024 steigen ihre Rentenzahlungen – je nach Eintrittsjahr – um einen Zuschlag von 7,5 Prozent beziehungsweise 4,5 Prozent.
Im Gesetzentwurf hatte das Arbeitsministerium für das kommende Jahr mit zusätzlichen Kosten von 1,3 Milliarden Euro und im Folgejahr von 2,6 Milliarden Euro kalkuliert. Danach sinken die Mehrausgaben langsam ab.
Nach DIW-Berechnungen werden rund 2,6 Millionen Erwerbsgeminderte von dieser Reform profitieren. Die durchschnittliche Rente steigt von 968 Euro brutto auf 1034 Euro im Monat. Allerdings hängt das verfügbare Einkommen auch von anderen Faktoren ab, etwa dem Verdienst von Familienmitgliedern im Haushalt.
Armutsrisikoquote sinkt durch die Reform um zwei Prozentpunkte
Mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die die gesamte Einkommenssituation berücksichtigen, und der Rentenversicherung haben die Berliner Forscher Effekte der Reform berechnet.
Demnach gelten aktuell 29 Prozent der Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner, die durch die Reform begünstigt werden, als armutsgefährdet, weil sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland zur Verfügung haben. Durch die Reform sinkt die Armutsrisikoquote um zwei Prozentpunkte auf 27 Prozent. Sie liegt damit aber deutlich über dem Schnitt der Gesamtbevölkerung, hierzulande sind insgesamt 16 Prozent der Menschen armutsgefährdet.
Betrachtet man nur Erwerbsgeminderte, die jünger als 65 Jahre sind, liegt die Armutsgefährdungsquote auch nach der Reform noch bei knapp einem Drittel.
18 Prozent der Erwerbsgeminderten gelten als arm, weil sie weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Diese Quote sinkt durch die Reform ebenfalls um zwei Prozentpunkte auf 16 Prozent.
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Wer gering qualifiziert ist oder ein niedriges Einkommen bezieht, hat ein größeres Erwerbsminderungsrisiko als der Bevölkerungsschnitt, erklärt DIW-Experte Johannes Geyer.
Diese Gruppe bekomme oft so niedrige Renten, dass sie zusätzlich auf staatliche Grundsicherung angewiesen sei. Im Jahr 2021 bezogen 18 Prozent der dauerhaft erwerbsgeminderten Männer neben der Rente noch staatliche Hilfen, bei den Frauen war der Anteil etwas geringer.
Noch weiter gehende Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente sind aus Sicht der Ampelkoalition aber schlicht zu teuer. „Hätte man die Verbesserungen vorheriger Reformen für den Rentenzugang auf alle bestehenden Rentner übertragen, hätte man die Renten eigentlich um etwa das Doppelte der jetzt geplanten Anhebung anpassen müssen“, sagt Studienautor Geyer.
Prävention ist die beste Armutsvermeidung
Allein mit höheren Beträgen sei es aber ohnehin nicht getan. Die beste Armutsvermeidung – und gleichzeitig ein Mittel gegen den Arbeitskräftemangel – wäre, präventiv dafür zu sorgen, dass Beschäftigte gar nicht erst erwerbsunfähig werden, betont der DIW-Forscher. Hilfreich seien etwa Rehamaßnahmen oder weniger Hürden bei der Suche nach einem neuen Job.
So bekommen Betroffene oft nur mit erheblichem zeitlichen und bürokratischen Aufwand den Status als Erwerbsgeminderte. Wer dann eine Arbeit annimmt, läuft aktuell Gefahr, den Status wieder zu verlieren, auch wenn die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt letztlich nicht erfolgreich verläuft.
Die Studie zeige, dass Erwerbsminderung ein wesentliches Risiko für Altersarmut sei, sagte der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Martin Rosemann, dem Handelsblatt. Die von der SPD vorangetriebenen Reformen der Erwerbsminderungsrenten seien richtig gewesen. Die Ergebnisse machten aber auch deutlich, „wie wichtig unser Ansatz ist, durch gesunde Arbeit, Prävention und Rehabilitation zu verhindern, dass Beschäftigte erwerbsunfähig werden“.
Kritisch merkt das DIW allerdings an, dass die Reform sehr spät kommt – für viele Betroffene wohl zu spät. Schließlich zielt sie auf Personen, die zwischen 2001 und 2018 erstmals eine Erwerbsminderungsrente erhalten haben.
Laut Statistik waren das rund 3,1 Millionen Personen. Doch hat sich der Rentenbestand bis zur Erhebung der SOEP-Daten im ersten Halbjahr 2020 schon um rund 500.000 Personen reduziert, die entweder bereits gestorben sind oder nur befristet eine Erwerbsminderungsrente erhalten haben. Sie konnten von der Reform also nicht mehr profitieren.
Mehr: „Man muss schon recht gutgläubig sein“ – Warum die Rente längst nicht mehr sicher ist.
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