Apr 26, 2023
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Türkei: So kämpfen Erdogan und seine Gegner um die Macht

Written by Ozan Demircan

Ankara Für den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan beginnt das „türkische Jahrhundert“, während eine seiner Herausforderinnen, Meral Aksener, mit dem Motto antritt: „Die Türkei wird Geschichte schreiben“. Die Chefin der oppositionellen Iyi-Partei hat vor den wichtigen Wahlen im Mai in der gesamten Hauptstadt Ankara riesige Plakate mit ihrem Bild und diesem Spruch aufstellen lassen.

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie recht behält. Am 14. Mai wählen mehr als 60 Millionen Türkinnen und Türken das Parlament und den Staatspräsidenten. Umfragen zufolge droht Staatschef Erdogan nach 20 Jahren die Abwahl. Er hat drei Herausforderer: Kemal Kilicdaroglu von der CHP, der mit Aksener in einem Sechserbündnis ist, Muharrem Ince, der selbst einmal für die CHP angetreten war, und Sinan Ogan, der kleinere nationalistische Parteien vertritt.

Früher sorgte Erdogan häufig mit harschen Worten gegen Partner im Westen und Gegner im eigenen Land dafür, die Reihen hinter sich zu schließen. Terroranschläge, ein Putschversuch oder fehlender Beistand aus Europa waren gute Anlässe, den Wahltag zur Entscheidung über Wohl und Wehe der Nation umzuwidmen. Nun war es lange ruhig, obwohl es nicht einmal vier Wochen bis zum Wahltermin sind. Das lag auch am Fastenmonat Ramadan, der am vergangenen Sonntag endete. Inzwischen haben Erdogan und seine Herausforderer längst in den Wahlkampfmodus geschaltet.

Erdogan war allerdings auch während des Fastenmonats viel unterwegs und weihte mehrere Staatsprojekte ein. Das ist seine Wahlkampfstrategie: Der Präsident will den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass er ihnen etwas bieten kann. Seit Ende März rollt das erste türkische E-Auto der heimischen Firma Togg auf türkischen Straßen. Anfang April stellte die Regierung das weltweit erste militärische Amphibienschiff vor, von dem aus Kampfdrohnen abheben können.

Seit Mitte April fließt erstmals Erdgas aus einem Feld unter dem Schwarzen Meer zu türkischen Haushalten und Fabriken. Außerdem will der Präsident noch vor der Wahl eine Schnellbahnstrecke mitten in Anatolien und ein Atomkraftwerk eröffnen.

Die AKP und ihr Präsident konzentrieren sich vor allem auf teure Wahlgeschenke. Die Mindestlöhne hob Erdogan zuletzt um fast 100 Prozent an, ebenso die Mindestrente und zahlreiche Beamtengehälter. Mit viel Steuergeld finanziert die Regierung günstige Kredite und stützt gleichzeitig mit Millionen Dollar die türkische Lira. Ein spezielles Konto türkischer Staatsbanken gleicht Wechselkursverluste automatisch aus – finanziert vom Steuerzahler.

Eine Erdbebenserie Anfang Februar mit mehr als 50.000 Toten überschattet allerdings den Wahlkampf in der Türkei. Präsident Erdogan entschuldigte sich zweimal beim Volk für die spät angelaufene Nothilfe. Weil Millionen Menschen obdachlos geworden sind, leben immer noch viele in Zeltstädten oder Notunterkünften im Rest des Landes. Oppositionsführer Kilicdaroglu machte unmittelbar nach den Beben Erdogan persönlich für Fehler beim Hausbau und der Nothilfe verantwortlich.

>> Lesen Sie hier: Die Türkei will zum europäischen Erdgas-Drehkreuz werden

Umfragen zeigen, dass Erdogans Mehrheit alles andere als sicher ist. Teilweise führt Herausforderer Kilicdaroglu deutlich vor Erdogan. Was nicht heißt, dass er am 14. Mai sofort in das Präsidialamt einziehen darf. Das türkische Wahlsystem hat sich 2017 radikal geändert und erneut im Jahr 2022. „Bei der anstehenden Wahl ist fast alles neu“, erklärt der Politikwissenschaftler Selim Kuru.

So gibt es erstmals eine mögliche Stichwahl. Und in den derzeitigen Umfragen erreicht kein Präsidentschaftskandidat eine absolute Mehrheit, sodass es zwei Wochen nach der Wahl zu einem weiteren Wahlgang kommen könnte.

Auch die Wahl des Parlaments findet unter neuen Regeln statt. Wenn sich Parteien im derzeitigen System mehr Sitze in der Legislative sichern wollen, müssen sie eine gemeinsame Kandidatenliste im Rahmen eines Wahlbündnisses führen. Dafür sind viele Kompromisse erforderlich. „Die Parteien müssen wirklich hart daran arbeiten, einander entgegenzukommen“, analysiert Ragip Soylu von der Nachrichtenagentur Middle East Eye in Ankara.

Vor allem CHP-Chef Kilicdaroglu setzt alles daran, viele verschiedene Wählerschichten zu vereinen. Seine jüngsten Twitter-Videos ließ er in einer typisch türkischen Mittelklasseküche aufnehmen. Viele seiner Unterstützer nutzen die Küchenszenerie nun als künstlichen Hintergrund in Videokonferenzen.

Kilicdaroglu in seiner Küche

Kilicdaroglu setzt alles daran, viele verschiedene Wählerschichten zu vereinen. Seine jüngsten Twitter-Videos ließ er in einer typisch türkischen Mittelklasseküche aufnehmen.

(Foto: Screenshot Kilicdaroglu Twitter)

Die Opposition verspricht, die Inflation zu senken. Vor allem aber wollen Erdogans Gegner zurück zum parlamentarischen System, in dem der Präsident nicht so viel zu sagen hat wie derzeit Erdogan. Die CHP verspricht auf Wahlplakaten, den Menschen ihre „durch die AKP verlorene Zeit, das verlorene Geld und die verlorenen Momente“ zurückgeben zu wollen.

Die Ungewissheit über den Verlauf der Wahl wirkt sich auf den Wahlkampf der Opposition aus. So erklärte etwa Mansur Yavas, der oppositionelle Bürgermeister der Hauptstadt Ankara und Kandidat für das Vizepräsidentenamt, dass die Opposition im Falle eines Wahlsiegs binnen drei Monaten Visafreiheit für Reisen in die EU erreichen werde. „Allein aus technischen Gründen dauert das länger als drei Monate“, warnt ein Beamter aus Brüssel.

Die Opposition macht wenige konkrete Vorschläge

Die wirklich wichtigen Inhalte anzusprechen vermeidet die Opposition. Sie kündigt zwar eine Senkung der Inflation an, ohne jedoch einen konkreten Plan darzulegen. In einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ kündigte der oppositionelle Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu an, dass im Falle eines Wahlsiegs seiner Partei eine Lösung für die vier Millionen Syrerinnen und Syrer im Land gefunden werde. Einen Plan legte er nicht vor.

Die international umstrittene Ukrainepolitik der türkischen Regierung möchte die Opposition nicht ändern, gaben zwei Parteifunktionäre kürzlich zu. Einer sagte gegenüber dem Onlinemedium Middle East Eye bezüglich der Krim-Halbinsel, die die Russen bereits 2014 annektiert hatten: „Ich fürchte, eine Lösung des Ukrainekonflikts wird nicht die Krim beinhalten.“

Auch die geplante Rückkehr zum parlamentarischen System, das zentrale Versprechen der Opposition, ist vorerst unerreichbar. Die aktuelle türkische Verfassung sieht einen exekutiven Präsidenten vor. Um die Verfassung zu ändern, bräuchte die neue Regierung eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Umfragen zufolge sind Erdogans Gegner weit davon entfernt, ebenso von einer Dreifünftelmehrheit für ein Verfassungsreferendum.

>> Lesen Sie hier: Warum auf dem Istanbuler Basar jetzt auch Devisen gehandelt werden

Das heißt: Wenn die Opposition gewinnt, muss sie zunächst in dem System zurechtkommen, das Erdogan für sich selbst geschaffen hatte. Oppositionsführer Kilicdaroglu verspricht zwar, als möglicher Präsident so zu agieren, als hätte er keine absolute Macht wie derzeit Erdogan. Trotzdem weckt eine solche Konstellation Begehrlichkeiten – und könnte innerhalb der stark verzweigten Opposition im Falle eines Wahlsiegs Streit um Kompetenzen und Inhalte hervorrufen.

Mehr: Warum Erdogans Macht vor den Wahlen ins Wanken gerät



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