Brüssel, Frankfurt Man habe jeden Zentimeter Spielraum ausgenutzt, um die Gesundheitspolitik möglichst weit voranzubringen, sagte Margaritis Schinas, Vizepräsident der EU-Kommission, als er an diesem Mittwoch Vorschläge zu neuen Pharmagesetzen vorstellte. Tatsächlich ist die EU für Gesundheitsfragen normalerweise nur am Rande zuständig. Doch die Reformen sollen einen großen Nutzen für die Europäer haben: Sie sollen schneller und verlässlicher an wichtige Medikamente kommen und dabei noch weniger bezahlen.
Möglich werden soll das vor allem über Änderungen bei dem sogenannten Unterlagenschutz, der neue Medikamente vor günstigeren Nachahmerpräparaten schützt. Damit diese sogenannten Generika in der EU schneller auf den Markt kommen, sollen die Entwickler der Originalmedikamente einen kürzeren Schutz für ihre neuen Mittel bekommen. „Wir wollen die Preise sinken sehen“, sagte Schinas. Stattdessen gibt es aber Boni für solche Medikamente, die besonders dringend gebraucht werden.
Die Branchenverbände sehen das Vorhaben mehrheitlich kritisch. Als „vertane Chance“ werten der Europäische Pharmadachverband Efpia und der deutsche Verband Forschender Pharmaunternehmen (VFA) die Reformvorschläge. Efpia-Generaldirektorin Nathalie Moll rechnet als Gesamtwirkung des Pakets damit, dass die Forschungsinvestitionen in Europa weiter zurückgehen und sich zunehmend in die USA und nach China verlagern.
Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), kritisiert: „Statt die Innovationskraft der Arzneimittelhersteller zu boostern, hemmt die EU-Kommission die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen und deutschen Pharmastandorts.“ Das Ziel, die Versorgung mit neuen Medikamenten zu fördern, werde klar verfehlt. „Reduziert sich der Schutzzeitraum, demotiviert dies die Unternehmen, die kostenintensive Forschung für neue Medikamente weiterhin hier zu betreiben“, sagt er.
Auch der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie kann in dem Pharmapaket der EU kein Zukunftskonzept für eine wettbewerbsfähige Industrie erkennen. Wolle man die Arzneimittelversorgung in allen EU-Mitgliedstaaten verlässlich sicherstellen, müssen Forschung, Entwicklung und Produktion in Europa auf industrie- und standortfreundliche Rahmenbedingungen treffen, sagt der Vorstandsvorsitzende Hans-Georg Feldmeier.
Längerer Schutz vor Nachahmern für EU-weit eingeführte Medikamente
Bisher sind neue Medikamente bis zu elf Jahre vor Nachahmern geschützt. Künftig sollen das in der Regel nur noch neun Jahre sein. Das senkt erst einmal den Anreiz, neue Medikamente zu entwickeln. Aber die Unternehmen können zusätzliche Schutzzeiten bekommen. Insbesondere, wenn die Unternehmen ihre Medikamente in allen 27 Mitgliedstaaten verkaufen, gewinnen sie einen zusätzlichen zweijährigen Schutz vor Nachahmern.
Die EU-Kommission will damit sicherstellen, dass der medizinische Fortschritt auch in kleineren Mitgliedstaaten ankommt. Die Markteinführung dort lohnt sich für die Unternehmen bisher oft nicht. Von den Medikamenten, die die europäische Arzneimittelbehörde Ema zwischen 2015 und 2017 zugelassen hat, waren im Jahr 2018 in Deutschland 104 erhältlich, in Lettland hingegen nur 11.
„Wir stellen auf ein System um, in dem Unternehmen verschiedene Anreize kumulieren können“, sagte ein EU-Beamter. Am Ende gewähre man einen Marktschutz, der zu den großzügigsten weltweit gehöre. Die USA etwa bieten bis zu zwölf Jahre. Laut Kommissions-Vizepräsident Schinas werde die EU weiterhin eine der industriefreundlichsten Schutzregelungen der Welt haben. Das System werde Innovationen belohnen und den Zugang zu Medikamenten verbessern.
Das Ziel sei ein „gemeinsamer einheitlicher Markt für Medikamente“, sagte der EU-Beamte. Alle Europäer sollten Zugang zu den neuesten Medikamenten haben. Derzeit gebe es extreme Unterschiede zwischen einzelnen Mitgliedstaaten, wie schnell neue Medikamente auf ihrem Markt eingeführt werden. Bei einigen dauere es nur Monate, andere müssten Jahre warten.
>> Lesen Sie hier: Pharmaunternehmen kritisieren den Standort Deutschland
Bei Patientenorganisationen kommt das Vorhaben der EU-Kommission an. Auf diese Reformen habe man lange gewartet, erklärte das Europäische Patientenforum: „Wir begrüßen die Vorschläge zur Stärkung der Anreize für eine schnellere Markteinführung und einen frühzeitigen Zugang zu Arzneimitteln für Patienten.“ Die Industrie müsse die neuen Möglichkeiten zum Wohle der Patienten nutzen.
Schnellere Zulassungsverfahren geplant
Die EU-Kommission will auch Zulassungsverfahren deutlich beschleunigen. Bisher dauere die Autorisierung bis zu 400 Tage, sagte der EU-Beamte. Künftig soll es maximal 180 Tage im Standardverfahren dauern und 150 Tage im beschleunigten Verfahren.
Auch will die Kommission vielversprechenden Medikamenten eine Vor-Autorisierung geben, um Investitionen für deren Entwicklung zu sichern. In der Pandemie hatte es Kritik daran gegeben, wie lange es dauerte, neue Impfstoffe zuzulassen. Um Arzneimittelknappheit wie im vergangenen Winter zu vermeiden, will die EU eine Liste mit kritischen Medikamenten wie Schmerzmitteln und Antibiotika erstellen. Pharmafirmen müssen künftig frühzeitig der Ema Bescheid geben, wenn eine Knappheit bei einem Medikament droht.
Während die Beschleunigung der Zulassungsprozesse von der Industrie begrüßt wird, werden die ausgeweiteten Meldepflichten rund um Lieferengpässe als zusätzlicher bürokratischer Aufwand kritisiert. „Leider werden begrüßenswerte administrative Erleichterungen durch neue Auflagen zunichtegemacht“, sagt Hubertus Cranz vom Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH).
Strengere Verpflichtungen hinsichtlich der Lieferfähigkeit von Arzneimitteln und der Meldung von Engpässen werden seiner Ansicht nach die Versorgungssicherheit nicht erhöhen. Dafür seien umfassende Lösungsansätze und eine Änderung der Vergütungsstrukturen notwendig, so der Verband.
>> Lesen Sie hier: Wie Lauterbach gegen die Medikamenten-Engpässe vorgehen will
Damit aus den Vorschlägen der Kommission Gesetze werden, müssen das Europaparlament und die Mitgliedstaaten zustimmen. Die Kommission will versuchen, diesen Prozess so zu beschleunigen, dass er vor der Europawahl im Frühjahr 2024 abgeschlossen ist. Einige Beobachter halten das für unrealistisch.
<< Den vollständigen Artikel: Pharmareform: EU-Kommission will Schutzfristen für Medikamente verkürzen >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.