London. Als Humza Yousaf Anfang der Woche erstmals mit dem britischen Premierminister Rishi Sunak zusammentraf, forderte der neue Chef der Scottish National Party (SNP) und First Minister der schottischen Regionalregierung sogleich eine neue Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands.
Mehr als eine Pflichtübung war das allerdings nicht. Schottland ist von einer schnellen Unabhängigkeit heute weiter entfernt als noch beim letzten Referendum 2014. „Yousafs Forderung gleicht einem Schattenboxen“, sagt James Mitchell, Politikwissenschaftler an der University of Edinburgh. Erhebungen zeigten, dass es nach wie vor keine Mehrheit für einen schottischen Alleingang gebe. Tatsächlich sind nach einer Umfrage von Yougov derzeit nur noch 39 Prozent der Schotten für die Unabhängigkeit. 2014 waren es noch 45 Prozent. „Und das liegt auch am desolaten Zustand der SNP“, so Mitchell.
Der Wissenschaftler ist mit seiner Einschätzung nicht allein. Die Ereignisse der vergangenen Wochen habe sie sich in ihren „schlimmsten Albträumen“ nicht vorstellen können, sagte Nicola Sturgeon, die nach fast zehn Jahren als SNP-Führerin und Chefin der Regionalregierung im März zurückgetreten war.
Was ist passiert? Kurz nach dem Rücktritt Sturgeons wurde ihr Ehemann Peter Murrell, der lange Jahre Generalsekretär der SNP war, von der Polizei verhaftet und vernommen.
Hintergrund ist ein Politthriller mit dubiosen Krediten, möglicherweise schwarzen Kassen – und einem mehr als 100.000 Euro teuren Wohnmobil. Die Polizei geht bereits seit 2021 der Frage nach, ob Parteispenden in Höhe von 600.000 Pfund (umgerechnet etwa 677.000 Euro), die von der SNP für die Unabhängigkeitsbewegung eingesammelt wurden, in andere, zweckfremde Kanäle geflossen sind. Die Parteiführung bestreitet das und hat alle Vorwürfe zurückgewiesen.
Das hat die Polizei in Edinburgh jedoch nicht davon abgehalten, nach Murrell auch noch den inzwischen zurückgetretenen Schatzmeister der SNP, Colin Beattie, zu verhaften. Beide Politiker sind inzwischen ohne Anklage wieder auf freiem Fuß. Was bleibt, sind viele ungeklärte Fragen. Zum Beispiel die, wer das Luxus-Wohnmobil gekauft hat, das die Polizei vor Murrells Elternhaus sicherstellte und von dem die SNP nun behauptet, es sollte ursprünglich als „Wahlkampfbus“ genutzt werden. Beattie jedenfalls gibt an, er habe als Schatzmeister nichts von dem Kauf gewusst.
SNP konnte keinen neuen Weg in die Unabhängigkeit aufzeigen
Die wohl wichtigste Frage aber ist: Was wusste Sturgeon, und wollte sie mit ihrem Rücktritt dem kurz danach aufgedeckten Finanzskandal zuvorkommen? „Ich verstehe die Ansicht einiger Leute, dass ich wusste, dass sich dies entwickeln würde, und dass ich deshalb gegangen bin“, sagte Sturgeon diese Woche, aber sie beharrt darauf, „nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein“. Die ehemalige SNP-Chefin ist bislang nicht von der Polizei vernommen worden.
Für den erst 38-jährigen Yousaf, Vorsitzender einer angeschlagenen und orientierungslos wirkenden Partei, könnte es kaum schlimmer kommen. „Die SNP hatte bislang einen guten Ruf als Regierungspartei, nicht nur weil sie sich für die Unabhängigkeit einsetzt“, konstatiert Politologe Mitchell, „aber der Ruf ist jetzt ruiniert.“
So ist es den Nationalisten bislang nicht gelungen, nach dem gescheiterten Referendum einen gangbaren Weg in die Unabhängigkeit aufzuzeigen. Versuche einer Neuauflage der Abstimmung wurden entweder von der Zentralregierung in London oder vom Obersten Gerichtshof abgelehnt.
Hinzu kommen gravierende wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme. Schottlands Wirtschaft hat viele Jahrzehnte von den Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee profitiert. Zwar versucht die SNP zusammen mit den Grünen, die schottische Wirtschaft auf einen nachhaltigen Kurs mit hoher Lebensqualität zu steuern. Ohne die Einnahmen aus den fossilen Energien hinkt die schottische Wirtschaft jedoch dem Rest des Vereinigten Königreichs hinterher.
Schottland hat Probleme in der Bildung und im Gesundheitswesen
Auch anderswo knirscht es: Die Wartelisten in den Krankenhäusern sind länger, der Personalnotstand in den Schulen ist größer, und die Noten der Schüler sind oftmals schlechter als im Rest des Königreichs. „Ein unabhängiges Schottland bräuchte ein schnelleres Wachstum“, sagte David Phillips von Institute for Fiscal Studies in London dem Finanzinformationsdienst Bloomberg. Schließlich müssen nicht nur die fiskalischen Transfers aus London ausgeglichen werden, sondern auch die Verluste durch den Rückgang der Öl- und Gaseinnahmen.
Das sei für jeden Politiker ein „extrem schwieriger Job“, sagt Mitchell. Yousaf, der sich im Rennen um die Nachfolge von Sturgeon nur knapp durchsetzen konnte und in der SNP allenfalls über eine schmale Basis verfügt, traut er das nicht zu. Die SNP werde zwar voraussichtlich bei der nächsten Parlamentswahl stärkste Partei in Schottland bleiben, mutmaßt der Politikwissenschaftler. „Aber die Labour-Partei wird von der Schwäche der Nationalisten profitieren und Sitze hinzugewinnen, insbesondere wenn sie Aussichten auf einen Wahlsieg ins Westminster hat.“
Mehr: Nachfolger von Nicola Sturgeon: Humza Yousaf führt die schottischen Nationalisten
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