Stockholm Christian Lindner trat gut gelaunt vor die Kameras im Konferenzzentrum am Stockholmer Flughafen. Er stand beim Treffen der EU-Finanzminister mal wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit, nachdem er diese Woche den Gesetzesentwurf der EU-Kommission zur Reform des Stabilitätspakts für unzureichend erklärt hatte.
Ob er es genieße, den Hardliner zu spielen, wurde der deutsche Finanzminister von einem Journalisten gefragt. Lindner bestritt diese Einschätzung. Er sei „immer optimistisch, freundlich und höflich“, sagte er. „Das ist meine Stimmung heute.“
Die 27 Finanzminister hatten am Freitag erstmals die Gelegenheit, persönlich über die Reformvorschläge der Kommission zu reden. Offiziell stand das Thema nicht auf der Tagesordnung, doch dominierte die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts die Gespräche am Rande des Treffens.
Die Kommission hatte ihren Gesetzesentwurf zu den neuen Schuldenregeln am Mittwoch vorgelegt, und sofort hatten sich die vertrauten Lager gebildet. Lindner waren die Regeln nicht strikt genug. Seine Kollegen aus Frankreich und Italien konterten, die deutschen Forderungen gingen zu weit.
Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire warf Lindner am Freitag öffentlich vor, „alte und ineffiziente Ideen durch die Hintertür einzuführen“. Man müsse die neue Realität anerkennen, dass manche Mitgliedstaaten eine Staatsverschuldung von mehr als hundert Prozent des Bruttonationalprodukts hätten und andere unter 60 Prozent lägen, sagte er. Deshalb sei der Vorschlag der Kommission, länderspezifische Schuldenabbaupläne zu vereinbaren, richtig.
Bis zum Jahresende wollen die Minister einen Kompromiss finden. Dann soll der Stabilitätspakt in reformierter Form wieder in Kraft treten, nachdem er seit Beginn der Coronapandemie im März 2020 ausgesetzt war. Bei der Reform geht es um die Frage, wie schnell die Staaten ihre Schuldenstände auf die erlaubte Marke von 60 Prozent der Wirtschaftskraft herunterfahren müssen.
>> Lesen Sie hier: Bei Steuern und Abgaben ist Deutschland Vizeweltmeister
Die Kommission will angesichts der hohen Schuldenstände nach der Pandemie den Staaten mehr Spielraum gewähren. Ein zu hartes Spardiktat könnte einige hochverschuldete Länder in die Rezession stürzen, so die Befürchtung. Die Behörde will daher mit jedem Land einen maßgeschneiderten vierjährigen Schuldenabbauplan vereinbaren, der den nationalen ökonomischen Besonderheiten Rechnung trägt. Lindner hingegen pocht auf ein Mindestmaß an einheitlichen, messbaren Regeln für alle.
Lindners Forderung, dass hochverschuldete Staaten ihre Schuldenquote jedes Jahr um mindestens ein Prozent senken müssen, fand keinen Eingang in den Gesetzesentwurf. Stattdessen hat die Kommission nur vorgeschlagen, dass Staaten ihr Defizit um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr senken müssen, wenn dieses die erlaubte Marke von drei Prozent übersteigt.
Lindner reicht dieses Entgegenkommen noch nicht, er fordert weitere Verschärfungen. Der Entwurf sei „nur ein erster Schritt“, sagte er in Stockholm. Er enthalte „positive Signale in Richtung der deutschen Position“, es seien aber noch weitere Ergänzungen nötig.
Lindner: Dürfen die Inflation nicht weiter anfüttern
Mehrere Finanzminister begrüßten, dass es endlich einen konkreten Gesetzesentwurf gebe, auf dessen Basis man verhandeln könne. „Es ist ein guter Start für Verhandlungen, wenn jeder ein bisschen unzufrieden ist“, sagte die schwedische Finanzministerin Elisabeth Svantesson, die derzeit die Ratspräsidentschaft innehat.
Auch die spanische Finanzministerin Nadia Calvino, die in der zweiten Jahreshälfte den Ratsvorsitz übernimmt, verbreitete Zuversicht. „Das Ziel der Finanzminister ist es, eine Einigung in diesem Jahr zu erzielen“, sagte sie. „Wir werden alles tun, um dieses Ziel zu erreichen.“
Doch an dem Zeitplan gibt es erhebliche Zweifel, so gravierend sind die Meinungsunterschiede. Die finanzpolitischen „Falken“, angeführt von Lindner, pochen auf mehr einheitliche Vorgaben zum Schuldenabbau. Die Regierungen müssten von ihren hohen Ausgaben runter, sagte der FDP-Chef. Man dürfe die Inflation nicht weiter anfüttern.
Le Maire hingegen argumentierte, jegliches starre jährliche Abbauziel verstoße gegen den Geist der Reform. Schließlich sei die Grundidee, die Vorgaben national zu differenzieren. „Wir sind strikt gegen jegliche automatische Regel zum Abbau von Schulden oder Defizit“, sagte er. Eine solche wäre „nicht effizient“.
In Pariser Regierungskreisen hieß es, die von Lindner durchgesetzte Defizitregel dürfe höchstens eine „Leitplanke“ sein. „Sie darf nicht in allen Situationen gelten.”
IWF-Europachef mahnt Finanzminister zum Sparen
Der Europadirektor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Alfred Kammer, begrüßte die Stoßrichtung der Reform. Der Kommissionsentwurf enthalte viele Elemente, die der IWF gefordert habe, sagte er in Stockholm. Dazu zählten die länderspezifischen Schuldenabbaupfade.
Zu den Nachbesserungsforderungen von Lindner wollte Kammer sich inhaltlich nicht äußern. Am Ende müssten die Regeln von allen Mitgliedstaaten mitgetragen werden, sagte er diplomatisch. Am wichtigsten sei es, die Reform jetzt bis zum Jahresende zu beschließen.
Kammer mahnte die Finanzminister auch, ihre Haushalte stärker zu konsolidieren. Die Fiskalpolitik müsse restriktiver werden, um nicht die Inflation weiter anzuheizen. Da seien die Staaten bisher hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Bekämpfung der Inflation müsse oberste Priorität haben, so der IWF-Mann.
EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis verteidigte den Kommissionsvorschlag. Es handele sich um einen ausgewogenen Entwurf, dem lange Konsultationen vorangegangen seien, sagte er. Jetzt müssten die Finanzminister sich konstruktiv damit auseinandersetzen. Die Frist zum Jahresende sei „ehrgeizig“. Sein Kollege, Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni, sagte, die Zeit reiche aus, wenn alle sich ernsthaft engagierten.
Was passiert, wenn es keine Einigung gibt?
Lindner betonte, dass er nicht allein der Reform im Weg stehe. „Andere, ich denke da an den italienischen Kollegen, haben aus anderer Perspektive Bedenken“, sagte er. Wenn man schnell eine gute Lösung erreichen könne, wäre das „noch besser“. Aber: „Solange wir keine neuen Regeln haben, gelten die alten.“
>>Lesen Sie hier: Pro und Contra zum Stabipakt: Brechen in der EU alle Dämme?
Formal hat Lindner recht. Das Problem war jedoch schon in der Vergangenheit, dass die alten Schuldenregeln nicht durchgesetzt wurden. Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), wies deshalb darauf hin, dass sie von keinem Teilnehmer gehört habe, dass eine Rückkehr zu den alten Regeln wünschenswert wäre.
Ihr Landsmann Le Maire wurde noch deutlicher: „Wir wollen nicht zu den alten Regeln zurück. Sie werden in der neuen Welt nicht wirksam sein“, sagte er.
Die Kommission hat bereits angekündigt, dass sie die Haushaltspläne der Regierungen 2024 nachsichtig bewerten will. Der Stabilitätspakt gibt ihr einen gewissen Ermessensspielraum. Aus Kommissionssicht wäre es daher auch im deutschen Interesse, schnell neue Regeln zu beschließen, die sich besser durchsetzen lassen.
<< Den vollständigen Artikel: Finanzministertreffen: Le Maire teilt im Streit um neue EU-Schuldenregeln gegen Lindner aus >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.