Istanbul Kemal Kilicdaroglu gibt derzeit viele Versprechen. Der türkische Oppositionsführer von der republikanischen CHP veröffentlicht jeden zweiten Tag ein längeres Twitter-Video. Mal spricht er über die religiöse Minderheit der Aleviten, mal über Rentnerinnen und Rentner, die unter der hohen Inflation leiden.
In einem anderen Video geht es um den Mindestlohnsektor. Der Oppositionschef verspricht darin, von Mindestlohn-Empfängern keine Steuern zu verlangen – und das, obwohl Mindestlöhne bereits seit mehr als anderthalb Jahren von der Lohnsteuer befreit sind.
Die Regierung stürzte sich auf das Thema. „Was kommt als Nächstes?“, fragte Ismail Cesur, Berater des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Ein türkisches E-Auto? Ein Flugzeugträger? Oder wollt ihr eine dritte Brücke über den Bosporus ankündigen?“ – rhetorische Fragen, denn dies sind allesamt verwirklichte Projekte der aktuellen Regierung.
Nach einem auffallend ruhigen Start während des Fastenmonats Ramadan und einer Erkrankung von Staatschef Erdogan spitzt sich der türkische Wahlkampf knapp zwei Wochen vor dem Urnengang zu. Am 14. Mai werden der Präsident sowie das Parlament gewählt. Erreicht kein Präsidentschaftskandidat im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit, erfolgt am 28. Mai eine Stichwahl. Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Präsident Erdogan und der gemeinsame Kandidat der Opposition Kilicdaroglu veranstalteten am Wochenende lautstarke politische Kundgebungen in verschiedenen Teilen der Türkei. Die wirklich wichtigen Themen geraten im Wahlkampf aber zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen liefern sich die beiden auf Twitter und Wahlkampfbühnen eine Schlammschlacht, die immer irrationaler wirkt.
Kilicdaroglu muss Zugeständnisse in der Allianz gegen Erdogan machen
In einem Video warnte Kilicdaroglu davor, die Regierung könne kurz vor den Wahlen sogenannte Deepfake-Videos benutzen, um die Opposition zu denunzieren. Dabei handelt es sich um realistisch wirkende Videos, die durch Künstliche Intelligenz verfälscht worden sind. Wenige Stunden später kündigte ein Parteigenosse Kilicdaroglus an, er könne sich vorstellen, für den eigenen Wahlkampf Deepfake-Videos zu verwenden.
>> Lesen Sie hier: Die türkische Lira steht vor den Wahlen unter Druck.
Der Oppositionschef steht im Wahlkampf vor zwei großen Herausforderungen. Zum einen muss er innerhalb der Oppositionsallianz, bestehend aus sechs Parteien, verschiedene Interessen bündeln. Daraus folgt, dass Kilicdaroglu einige Themen nicht ansprechen kann, über die er sonst sprechen würde.
So hat Kilicdaroglu bisher kein einziges Mal ein Ende der Ermittlungen gegen die kurdisch geprägte HDP gefordert, die selbst keinen Kandidaten aufgestellt hat. Das liegt daran, dass innerhalb seiner Allianz die national-säkulare Iyi-Partei im Wahlkampf nicht zu viele Zugeständnisse gegenüber Kurdinnen und Kurden im Land machen möchte. Auch hat der 74-Jährige bislang nicht die Freilassung des Kulturmäzens Osman Kaval verlangt, weil der seit 2017 Inhaftierte im Rest des Bündnisses kaum Unterstützung genießt.
Zum anderen fällt es ihm schwer, aus der schwachen Wirtschaftspolitik der Regierung Kapital zu schlagen. Zwar redet Kilicdaroglu oft über die türkische Wirtschaft, die unter der hohen Inflation und dem Zusammenbruch der Lira leidet. Auf Wahlplakaten verspricht er Investments in Höhe von 300 Milliarden US-Dollar. Wo das Geld herkommen soll, erklärt er aber nicht.
Werte für Opposition und Regierung der Türkei schwanken in Umfragen stark
Umfrageforscher sehen eine große Dynamik unter den Wählerinnen und Wählern. Herausforderer Kilicdaroglu führt in einigen Umfragen, doch andere bescheinigen Erdogan eine erfolgreiche Aufholjagd.
„Bis Mitte vergangenen Jahres verlor Erdogans Allianz regelmäßig an Stimmen, während die Opposition zulegen konnte“, sagt Ulas Tol vom Institut Team. Demnach erreichte die Opposition ihren Höchststand im Sommer vergangenen Jahres, als die Inflation auf 85 Prozent gestiegen war.
„Anschließend sanken die Werte der Opposition wieder auf 38 Prozent“, erklärt Tol. Die Opposition habe die schwierige wirtschaftliche Lage nicht lange in eigene Unterstützung ummünzen können. Im Gegenzug trat das Regierungslager in eine Erholungsphase ein. Nach der Erdbebenkatastrophe im Februar und heftiger Kritik am Krisenmanagement der Regierung habe „sich das Gleichgewicht zugunsten der Opposition gewendet“. Doch es zeichne sich ab, dass auch diesmal die Opposition nicht lange von den Fehlern der Erdogan-Regierung profitieren kann.
Präsident Erdogan scheint derweil einen Wandel durchzumachen. Früher teilte er im Wahlkampf regelmäßig gegen den Westen aus, sprach von feindlichen Kräften, die der Türkei Schlechtes wollten.
Jetzt ist davon nichts zu hören. Im Gegenteil, die Türkei hat vor Kurzem Finnland für einen Nato-Beitritt grünes Licht erteilt. Selbst mit alten Feinden wie Ägypten, Syrien und Armenien bemüht sich Ankara um eine Aussöhnung.
Seine Macht will Erdogan dennoch demonstrieren. Er präsentierte im Wahlkampf eine Art Flugzeugträger für Kampfdrohnen, eine Fregatte, einen Kampfjet aus türkischer Produktion ebenso wie weitere militärische Fluggeräte und einen Kampfpanzer.
Mehr: Wahlkampf aus Washington – Türkei erhält nun doch F-16-Teile
<< Den vollständigen Artikel: Türkei: Falsche Versprechen und viel Militär – der Wahlkampf spitzt sich zu >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.