Berlin Wenn Frauen unter Atemnot, Rückenschmerzen und kaltem Schweiß leiden, denken die wenigsten an einen Herzinfarkt. Gerade diese Symptome sind bei ihnen aber typisch – und viel häufiger als bei Männern.
Das dürfte auch der Grund sein, warum Frauen daran laut Herzinfarktregister häufiger sterben: Ärzte erkennen die Symptome schlechter.
Experten sprechen vom „Gender Health Gap“, durch den Frauen bei Therapien und auch bei Medikamenten Nachteile erleiden. Das Problem ist offenbar weitverbreitet, wie eine noch unveröffentlichte Studie des Versicherungskonzerns Axa nun zeigt.
Demnach sorgt sich eine Mehrheit der rund 300 befragten niedergelassenen Allgemeinmedizinerinnen und Internisten, ihre Patientinnen falsch zu behandeln. Fast alle stimmen der Aussage zu, dass das Geschlecht bei der medizinischen Behandlung eine Rolle spielt.
Unter den Patientinnen und Patienten ist das Problem indes kaum bekannt. Eine Mehrheit von 78 Prozent der befragten Deutschen glaubt nicht, dass sie wegen ihres Geschlechts bereits eine fehlerhafte Diagnose erhalten haben, zeigt die Axa-Untersuchung. Nur etwa die Hälfte weiß demnach, dass der Faktor Geschlecht in der Medizin überhaupt eine Rolle spielt.
Geschlechtsunterschiede kaum bekannt
„Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass wir noch viel zu tun haben bezüglich des Gender Health Gaps“, sagte die SPD-Gesundheitspolitikerin Heike Engelhardt dem Handelsblatt. Besonders im Notfall sei unzureichendes Wissen über geschlechtsspezifische Symptome kritisch. Und: „Medikamente werden tendenziell an mehr Männern als Frauen ausprobiert, bevor sie auf den Markt kommen.“
Die Ampelkoalition reagierte beispielsweise Ende 2022 mit einer neuen Förderrichtlinie zu Frauengesundheit und Endometriose im Forschungsministerium in Höhe von fünf Millionen Euro pro Jahr. Endometriose ist eine krankhafte Wucherung an der Gebärmutterschleimhaut, die zu starken Schmerzen führen kann. Laut der Endometriose-Vereinigung gibt es rund zwei Millionen betroffene Frauen in Deutschland. Die Krankheit gilt als kaum erforscht.
Die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, spricht deswegen von einem „enormen Aufholbedarf“. Leider hätten die „geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Forschung lange Zeit kaum eine Rolle gespielt“, sagte sie dem Handelsblatt. „Deshalb brauchen wir mehr Studien, die solche Unterschiede berücksichtigen“, fordert sie. Die kosteten zwar mehr Geld, seien aber unbedingt notwendig, um allen Patientinnen und Patienten gerecht zu werden.
Wieso gibt es den Gender Health Gap?
Jahrzehntelang waren nicht nur die meisten Ärzte Männer, der männliche Körper diente auch als Maßstab in der medizinischen Forschung. Geschlechtsspezifische Unterschiede spielten deswegen in der Medizin lange eine untergeordnete Rolle.
Der Hormonhaushalt der Frau verändert sich beispielsweise mit dem Zyklus, der sich zudem mit dem Lebensalter verändert, das hat Einfluss auf die Wirkweise von Medikamenten. Doch diese komplexen Zusammenhänge wurden in der Forschung bisher kaum berücksichtigt.
In der ersten Phase der Medikamententestung kommen bis dato fast nur männliche Lebewesen zum Einsatz. Schätzungsweise 80 Prozent der Versuchsmäuse etwa sind Männchen, auch in der ersten Testphase am Menschen nehmen überwiegend männliche Versuchspersonen teil. Laut dem Verband forschender Arzneimittelhersteller beläuft sich der Anteil von Probandinnen in frühen klinischen Studien der ersten Phase auf zehn bis 40 Prozent.
Frauen im gebärfähigen Alter wurden lange Zeit komplett aus der medizinischen Forschung ausgeschlossen. Mittlerweile ist aber eine angemessene Gewichtung der verschiedenen Geschlechter in der klinischen Forschung gesetzlich vorgeschrieben.
Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité Berlin, sieht das Problem damit noch lange nicht beseitigt. „Niemand führt noch mal neue Studien für bereits zugelassene Medikamente durch“, gibt sie zu bedenken. „Dazu bräuchte es viel mehr Forschung, die aber keiner macht.“
Was können Ärztinnen und Ärzte tun?
Auch Ute Seeland, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin, spricht von einer Fokussierung auf den männlichen Körper, die problematisch sei.
„Erkrankungen, deren Symptomatik auf eine bestimmte Art und Weise im Lehrbuch stehen, finden sich in der Realität nicht immer so wieder“, berichtet die Fachärztin für Innere Medizin aus der Praxis. Ihr Wissen über den Einfluss des Geschlechts auf medizinische Zusammenhänge musste sie sich teilweise selbstständig erarbeiten.
Meistens würden Daten zu Geschlecht und Alter in Studien allerdings nicht getrennt ausgewertet, kritisiert sie. Die Interpretation dessen, ob die Studienergebnisse eher für Männer oder eher für Frauen gelten, muss Seeland dann selbst vornehmen.
Ärzte müssten zudem die Dosierung von Medikamenten meistens selbstständig anpassen, weil sie sich an Männern orientierten. Doch das ist nicht ohne Risiko, denn die Wirksamkeit ist nur für die im Beipackzettel genannten Dosierungen klinisch nachgewiesen – anhand des männlichen Prototyps.
Gender Health Gap: Auch für Männer relevant?
Die Expertinnen sind sich einig, dass eine geschlechtersensible Medizin nicht nur Frauen, sondern auch Männern helfen würde. „Beim Thema erblich bedingtes erhöhtes Krebsrisiko ist das Bewusstsein bei den Frauen bei Brustkrebs relativ groß – Männern ist das Risiko weniger bewusst“, sagt etwa Gendermedizinerin Stadler von der Charité.
Ein ähnliches Phänomen hat auch Susanne Berrisch-Rahmel beobachtet. Sie ist Kardiologin und Gendermedizinerin mit einem speziellen Fokus auf die Sportmedizin. Ihr ist aufgefallen, dass männliche Athleten öfter an einem sportinduzierten plötzlichen Herztod sterben als weibliche. Außerdem hätten Männer, die lange Jahre Ausdauersport treiben, ein höheres Risiko für Vorhofflimmern. „Wir können noch nicht genau sagen, warum dies bei Sport treibenden Frauen seltener ist“, sagt Berrisch-Rahmel.
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