Straßburg Schon Ort und Zeitpunkt machen diese Kanzlerrede bemerkenswert. Am Europatag ist Olaf Scholz ins Europäische Parlament nach Straßburg gekommen – und nutzt seinen Auftritt, um einen Blick über Europa hinaus zu werfen. Der SPD-Politiker mahnt die EU, den „eurozentrischen Blick der vergangenen Jahrzehnte hinter sich“ zu lassen und eine Partnerschaft mit den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas anzustreben, „die Augenhöhe nicht nur behauptet, sondern herstellt“.
Damit skizziert Scholz seine außenpolitische Vision für die Europäische Union. Er sieht Europa als Scharnier zwischen liberalen Demokratien des Westens und zunehmend selbstbewussten Schwellenländern. Die EU solle sich stärker um aufstrebende Nationen bemühen, fordert er, und dabei nicht nur über Werte dozieren, sondern konkrete wirtschaftliche Vorteile bieten.
Scholz macht sich in seiner Rede für eine weitreichende europäische Freihandelsagenda stark, für Abkommen mit den Mercosur-Staaten Südamerikas, „mit Mexiko, mit Indien, Indonesien, Australien, Kenia und perspektivisch mit vielen weiteren Ländern“. In diesem Moment brandet das erste Mal Applaus durch das Straßburger Plenum. Auch das ist bemerkenswert, denn Freihandel war in Europa lange ein Reizthema, das Politiker lieber mieden.
Die EU müsse sich der Welt zuwenden: Das war die Botschaft des Kanzlers. „Wenn wir noch jahrelang ergebnislos weiterverhandeln über neue Freihandelsabkommen, dann diktieren künftig andere die Regeln – mit niedrigeren Umwelt- und Sozialstandards.“
Scholz ist davon überzeugt, dass sich eine multipolare Weltordnung entwickelt und der globale Einfluss Europas tendenziell abnimmt. Gleich am Anfang seiner Rede zitierte er den französischen Schriftsteller Paul Valéry: „Wird Europa das, was es wirklich ist: ein kleines Vorgebirge, ein Kap des asiatischen Festlands?“ Der Kanzler will das verhindern, doch die globale Machtverschiebung ist bereits im Gang. Und sie hat schwerwiegende Folgen, wie sich im Ukrainekrieg zeigt. Westliche Argumentationsmuster und Belehrungen über die „regelbasierte Weltordnung“ verfangen nicht mehr.
Scholz will Beziehung der EU zum globalen Süden überdenken
Auch demokratische Länder wie Brasilien, Indien und Südafrika brechen die Beziehungen zu Russland nicht ab, weder die politischen noch die ökonomischen. Teils unterlaufen diese Länder sogar gezielt die Sanktionen der EU.
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Von globalen Swing States schreibt der German Marshall Fund in einer aktuellen Studie und mahnt ein „Überdenken des Engagements der USA und Europas gegenüber wichtigen Akteuren in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Osten und dem indopazifischen Raum“ an.
Genau das schwebt Scholz vor: „Die Länder des globalen Südens sind neue Partner, deren Sorgen und berechtigte Interessen wir ernst nehmen“, sagt er.
Zugleich müsse Europa eine strategische Nachbarschaftspolitik betreiben und die Erweiterungsversprechen umsetzen, die es den Staaten des Westbalkans, der Ukraine und Moldau gegeben hat. Darin sieht der Kanzler auch einen geopolitischen Auftrag: Eine „prosperierende, demokratische, europäische Ukraine“ sei eine Absage an „Putins imperiale, revisionistische, völkerrechtswidrige Politik“.
Überhaupt spielt die Geopolitik in Scholz’ Rede eine zentrale Rolle. Der Kanzler spricht sich für mehr Investitionen aus – in die Verteidigung, „in technologische Souveränität, in zuverlässige Lieferketten, in unsere Unabhängigkeit bei kritischen Rohstoffen“.
Nicht mehr erpressbar sein: Nach dem fatalen Irrtum der Energiepartnerschaft mit Russland liegt darin eine zentrale Herausforderung der europäischen Außenpolitik. Allerdings ist die EU – und vor allem Deutschland – noch weit von diesem Ziel entfernt.
Bei klimaneutralen Technologien, ob Batterien oder Solarzellen, ist Europa auf chinesische Lieferanten angewiesen, die Abhängigkeit ist sogar noch größer als von russischem Gas.
Scholz erhält für Rede im EU-Parlament viel Applaus – erntet aber auch Kritik
Das soll sich ändern. Scholz stellt sich in Straßburg hinter das von Kommissionschefin Ursula von der Leyen vorgeschlagene Konzept des „De-Risking“, der Risikominderung, da „Rivalität und Wettbewerb seitens Chinas ohne jeden Zweifel zugenommen haben“, sagt der Kanzler. Dazu könne auch die Handelsagenda dienen. Eine Diversifizierung von Europas Handelsbeziehungen verringere Abhängigkeiten.
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Allerdings ist Scholz bewusst, dass die EU in ihrer derzeitigen Verfassung nicht in der Lage ist, in einer Welt zu bestehen, die immer stärker durch die Rivalität großer Mächte geprägt wird. Seine Antwort auf die außenpolitische Schwäche der Union sind „mehr Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit“, also ein Abrücken vom Prinzip der Einstimmigkeit unter den EU-Staaten.
Für seine Rede erhält Scholz stehenden Applaus, in der anschließenden Debatte gibt es aber auch deutliche Kritik. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, mahnt, Europa brauche keine Grundsatzreden, sondern konkrete Reformen. Am härtesten geht die Grünen-Politikerin Terry Reintke mit Scholz ins Gericht, was einen bemerkenswerten Schlusspunkt dieses bemerkenswerten Kanzlertermins bildet.
Scholz über Putin: EU lässt sich von „Machtgehabe“ nicht einschüchtern
Die Koalitionsdisziplin der Ampel zählt im EU-Parlament wenig. Reintke macht deutlich, was Grüne in Berlin nur hinter vorgehaltener Hand aussprechen. Führungsschwäche wirft sie Scholz vor. „Das Bild des Kanzlers, der liefert, ist in den letzten Monaten leider verblasst“, sagt sie. Dann wendet sie sich direkt an Scholz: „Sie lassen laufen, statt sich klar zu positionieren.“
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