Berlin Was für viele noch Zukunftsmusik ist, gehört für Felix Nensa bereits zum Arbeitsalltag. Nensa ist Radiologe am Universitätsklinikum Essen, sein Spezialgebiet ist Künstliche Intelligenz. Derzeit arbeitet er an großen Sprachmodellen, die mit dem Programm ChatGPT weltweit für Aufsehen sorgen.
Sie können komplexe Sachverhalte einfach erklären oder große Datenmengen in Sekundenschnelle analysieren. „Innerhalb von wenigen Wochen hat sich die Art, wie wir arbeiten, radikal verändert“, sagt Nensa dem Handelsblatt.
ChatGPT helfe bereits beim Verfassen von Datenschutzhinweisen oder Stellenbeschreibungen. Außerdem könne sein Team mithilfe des Programms zehnmal schneller programmieren, da es Code generiere. IT-Projekte im Haus seien dadurch massiv beschleunigt worden. „Das ist unglaublich und gibt einen Vorgeschmack auf die Geschwindigkeit, mit der ChatGPT auch die Medizin verändern wird“, sagt Nensa.
Die KI soll Ärzte und Pfleger in Krankenhäusern entlasten und Patienten beraten. Das Universitätsklinikum Essen mit seinen rund 1300 Betten und 55.000 stationären Patienten pro Jahr will dabei Vorreiter in Deutschland sein.
„Unser Ziel ist es, dass ChatGPT oder die dahinterliegende Technologie schon in den nächsten Monaten in Essen im Bereich Medizin zum Einsatz kommt“, sagt Klinikdirektor Jochen Werner. „Auf diesen Moment haben wir jahrzehntelang gewartet.“
Arztbrief von der KI geschrieben
So lässt das Team von Nensa testweise Arztbriefe von einer KI so umschreiben, dass sie auch für Laien verständlich sind. In der Notaufnahme sollen die Essener Ärzte künftig mit Sprachmodellen wie ChatGPT in Sekundenschnelle in elektronischen Patientenakten nach Allergien und Krankheiten suchen können.
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Auch Patientengespräche sollen dann anders ablaufen. Die KI soll künftig alles, was Patient und Arzt sagen, strukturiert aufschreiben. Der Arzt muss dann nicht mehr während des Gesprächs gleichzeitig in den Computer tippen, sondern kann sich ganz auf den Patienten konzentrieren.
Im Grunde ist die Technologie sehr gut darin, „gesprochene Medizin und zwischenmenschliche Interaktion in strukturierte Daten zu übersetzen, die wir weiterverwenden können“, sagt Nensa. „Große Sprachmodelle werden der zentrale Übersetzer zwischen Mensch und Maschine.“
Ärzte und Pflegepersonal müssten sich nicht mehr auf die Computer einstellen, indem sie Daten in eine Software eingeben. Das koste Zeit und es würden Fehler passieren. Gleichzeitig könnten die Daten die Medizin verbessern, indem neue Medikamente und Therapien erforscht werden. „Das ist der Kern der Revolution“, sagt er.
Die nötige Infrastruktur – vor allem die Daten – sind in Essen bereits vorhanden. Die Klinik kann inzwischen auf 1,5 Milliarden sogenannte Datenpakete zugreifen, die seit den 90er-Jahren auf Servern gespeichert sind.
Klinikum Essen im Vorteil gegenüber Google und Microsoft
Das sind zum Beispiel digitalisierte OP-Berichte, Bilddaten oder kleine Notizen in Patientenakten. Das Team um Nensa entwickelt damit eigene, auf die Medizin spezialisierte Sprachmodelle. Es sieht sich sogar im Vorteil gegenüber IT-Giganten wie Google und Microsoft, „die vermutlich schlicht nicht so viele kohärente, strukturierte medizinische Daten haben“, sagt er.
Im Moment stünden dem aber vor allem fehlende Regulierungen und auch Zulassungen im Weg, ohne die die Technologie nicht eingesetzt werden dürfe, sagt KI-Experte Nensa. Theoretisch aber sei man in der Lage, sie „schon morgen umzusetzen.“
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Damit nimmt Essen eine Vorreiterrolle ein. Der Aufwand für solch große KI-Projekte ist für kleinere Krankenhäuser schlicht zu groß oder gar nicht umsetzbar. In einer Studie aus dem Jahr 2017 lagen deutsche Kliniken im europäischen Vergleich bei der Digitalisierung weit unter dem Durchschnitt. Die Bundesregierung hat deshalb im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes 4,3 Milliarden Euro für die Digitalisierung der Kliniken bereitgestellt.
KI für viele Kliniken Zukunftsmusik
Die Kliniken erhalten das Geld für elementare Projekte – etwa für die technische Ausstattung von Notaufnahmen, Patientenportale, IT-Sicherheit oder einen einfachen Breitbandanschluss. Der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Digitalradar soll messen, welche Fortschritte die Kliniken mit den Milliarden des Bundes machen. Von 100 möglichen Punkten erreichen sie dort derzeit im Schnitt 33.
„Künstliche Intelligenz ist zwar auch förderfähig, aber aktuell noch nicht der Fokus“, sagt der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, dem Handelsblatt. Der Einsatz von Sprachmodellen wie ChatGPT in der flächendeckenden Krankenhausversorgung sei noch „über Jahre Zukunftsmusik“.
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Gaß fordert deswegen ein Krankenhauszukunftsgesetz 2.0 für „die nächsten Zukunftsprojekte wie den Einsatz von großen Sprachmodellen“. Voraussetzung sei, dass sämtliche Gesundheitsdaten des Patienten für Kliniken verfügbar werden. Die elektronische Patientenakte, die derzeit noch kaum Nutzen hat, sei dafür essenziell.
„Deswegen ist es so wichtig, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach möglichst rasch den angekündigten Entwurf zur Digitalisierung vorlegt“, forderte Gaß. Demnach soll die digitale Patientenakte 2024 für alle Versicherten verpflichtend werden. Viele Kliniken speichern die Daten ihrer Patienten bereits jetzt digital.
Wichtig sei auch die Regulierung von Künstlicher Intelligenz. „Gesundheitsdaten sind besonders sensibel, deswegen sollten sie nur nach europäischen Datenschutzstandards verarbeitet werden.“
Lauterbach für eine strenge Regulierung
Dass ChatGPT und vergleichbare Systeme deswegen kurzfristig in Kliniken oder im Gesundheitswesen zum Einsatz kommen, komme deswegen nicht infrage – „immerhin stehen die Server dafür in den USA“. „Es wäre also unverantwortlich, die Software mit deutschen Gesundheitsdaten zu bespielen“, sagte Gaß. Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprach sich kürzlich für eine strenge Regulierung aus.
Ohne Weiteres sei laut Gaß aber vorstellbar, dass deutsche Anbieter Modelle nach dem Vorbild von ChatGPT entwickeln, die auf medizinische Fragen spezialisiert sind und zuverlässig arbeiten. Das Universitätsklinikum Essen geht diesen Weg.
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