Ankara Die Unsicherheit um den Ausgang der Präsidentschaftswahlen in der Türkei verunsichert Investoren. Nach einer zeitweisen Unterbrechung des Handels gibt der türkische Leitindex in Istanbul nach und fällt um bis zu 6,7 Prozent auf 4475 Punkte.
Am Vormittag grenzte der Index die Verluste ein und erholte sich teilweise, insgesamt blieb aber ein deutliches Minus. Einer Auswertung der Nachrichtenagentur Reuters zufolge verlieren vor allem Banken-Titel: Der Branchenindex bricht um bis zu 9,6 Prozent ein.
Auch die türkische Lira hatte im Handel am Sonntag gegenüber dem Euro mehr als drei Prozent an Wert verloren, inzwischen diesen Verlust aber wieder ausgeglichen. Seit Jahresbeginn liegt das Minus bei rund 6,8 Prozent. Am Montag kostete ein Euro 21,38 Lira, ein US-Dollar 19,66 Lira.
„Die Märkte hatten sich vor dem Wahlgang noch erholt, als die meisten Umfragen den Herausforderer Kilicdaroglu vorn sahen“, erklärt Timothy Ash, Analyst bei Bluebay. „Nun zeigt sich, dass viele Investoren falschgelegen haben könnten.“
Denn der amtierende türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan liegt laut Zahlen der Wahlbehörde nach Auszählung fast aller im Land abgegebenen Stimmen vorn. Eine absolute Mehrheit verfehlt er demnach aber knapp. Insgesamt komme er auf 49,40 Prozent, sagte Behördenchef Ahmet Yener am Montag laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.
Sein Herausforderer, Kemal Kilicdaroglu von der CHP, liegt rund fünf Prozentpunkte hinter ihm. 99 Prozent der Wahlurnen im Inland und 84 Prozent der aus dem Ausland seien bisher ausgezählt. Der Kandidat eines ultranationalistischen Parteienbündnisses, Sinan Ogan, kommt demnach auf 5,3 Prozent.
Weil Erdogans Parteienbündnis bei den gleichzeitigen Parlamentswahlen außerordentlich gut abgeschnitten hat, geht der Amtsinhaber mit einem Startvorteil in die Stichwahl. Klar ist: Ein Durchmarsch der Opposition bei beiden Wahlen fällt aus. Den Märkten scheint das auf Anhieb nicht zu gefallen.
Türkische Lira: Analysten erwarten weitere Turbulenzen
„Der türkischen Lira dürfte ein turbulenter Monat bevorstehen“, schlussfolgern die Analysten der Commerzbank am Montagmorgen. Mit einer Abwahl Erdogans hätte „das unkonventionelle geldpolitische Experiment der Türkei“ ebenso geendet wie das Präsidialsystem. „Für die Lira wäre dies ein positives Szenario gewesen, weil die Oppositionsregierung die Unabhängigkeit der Zentralbank sofort wiederhergestellt und höhere Zinsen gestattet hätte“, so die Meinung der Analysten.
Ob der Favorit Erdogan die Stichwahl gewinne, hänge nun aber auch von der Entwicklung des Wechselkurses ab, meinen die Commerzbank-Fachleute. Die Geld- und Wirtschaftspolitik dürfte daher bis zum 28. Mai genauso wie bisher darauf ausgerichtet sein, solch einen Absturz zu verhindern.
Dass sich mit einer Wiederwahl Erdogans am grundliegenden wirtschaftspolitischen Kurs etwas ändere, sei unwahrscheinlich, meint dagegen Thomas Gitzel, Chefökonom der VP Bank. „Die Abwertungen der Lira würden sich wohl fortsetzen.“ Das latente Risiko eines Zahlungsausfalls werde außerdem fortbestehen, meint der Ökonom.
Allgemein zeigen die Wirtschaftsdaten bisher ein gemischtes Bild. Die Inflation ist mit über 40 Prozent so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Das Haushaltsdefizit hat sich im April außerdem noch einmal ausgeweitet, wie Daten des Nationalen Statistikinstituts Tüik vom Montag zeigen.
Dass vor allem Bankaktien unter den aktuellen Wahlprognosen leiden, liegt an der Tatsache, dass die Geldhäuser von vielen Entscheidungen der Regierung besonders betroffen sind. Sie hatten die Kreditvergabe zuletzt massiv ausgeweitet, damit stiegen auch die Bilanzrisiken. Erhöht die Erdogan-Regierung nach einer gewonnenen Wahl die Zinsen, könnte dies für Zahlungsausfälle bei Haushalten und Firmen sorgen; bleiben die Zinsen niedrig, werden die Bankbilanzen immer weiter aufgebläht, mit ungewissem Ausgang.
Trotz chaotischer Wirtschaftsdaten: Die Kaufkraft legt zu
Dennoch scheint die türkische Realwirtschaft von einer echten Krise ein Stück entfernt. Die Arbeitslosigkeit ist stabil, vor allem türkische Exportfirmen verdienen ihren Quartalsergebnissen zufolge gut, Konsumenten haben wegen der vielen Wahlgeschenke Erdogans erheblich an Kaufkraft gewonnen.
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Ein Beispiel illustriert die gestiegene Kaufkraft: Für ein Macbook Air von Apple mussten Türkinnen und Türken vor fünf Jahren rund sieben Mindestlohn-Gehälter aufbringen. Inzwischen sind es rund 2,5 Mindestlöhne.
Außerdem haben, so seltsam es klingen mag, viele Menschen von Erdogans Wirtschaftspolitik profitiert. Weniger die sozioökonomische Unterschicht – einst eine der Hauptzielgruppen von Erdogans Wählerkampagnen –, sondern vor allem die neue Mittel- und Oberschicht der türkischen Gesellschaft.
Wer Häuser oder Grundstücke besitzt, konnte täglich dabei zuschauen, wie der Wert von Grund und Boden stieg – teilweise um mehr als 500 Prozent innerhalb von zwei Jahren, zumindest in US-Dollar berechnet.
Entscheidend wird nun sein, wie lange die Regierung den Wechselkurs stabil halten kann. Dafür muss sie umfangreiche Devisenreserven aufwenden. „Wir haben schon in den letzten Tagen und Wochen am Kurschart ablesen können, dass die künstliche Lira-Stabilisierung immer schwerer fällt“, urteilen die Commerzbank-Analysten. Einmal mehr könnte die Wirtschaft darüber entscheiden, ob Erdogan im Amt bleibt.
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