May 15, 2023
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Ukraine-Krieg: Russisches Theater: Moskau macht das zerstörte Mariupol zu einem „kleinen Stück Paradies“

Written by Ivo Mijnssen

Wien Junge Menschen spazieren durch das Stadtzentrum, tanzen zu Straßenmusik und staunen über das reiche Angebot an den Marktständen: Die Videos und Reportagen, die dieser Tage auf russischen Portalen erscheinen, zeigen Mariupol als Stadt im Aufbruch, voller Leben und bereit für die sommerliche Touristensaison am Asowschen Meer.

„Die Stadt erwacht neu“, sagt der Korrespondent einer staatsnahen russischen TV-Station, „der Schrecken liegt nun in der Vergangenheit.“ Ausblenden kann er ihn aber nur, indem die Kamera nah an die Menschen heranzoomt. Sobald ganze Häuserzeilen im Bild sind, überwiegt die Masse der ausgebombten Ruinen die einzelnen Neubauten. Mariupol gehörte zu den am meisten umkämpften Städten in der Ukraine. Seit Mai 2022 steht die Stadt unter russischer Kontrolle.

Zu den wahren Zuständen äußern sich Bewohner und russische Freiwillige nur anonym: „Mariupol fühlt sich an wie eine Stadt der Geister“, erzählt Olga aus St. Petersburg gegenüber dem russischen Ableger von Radio Free Europe. „Ihre Atmosphäre entzieht einem alle Kraft.“ Ein Jahr nach dem Fall von Mariupol sind die Narben der brutalen russischen Belagerung nur oberflächlich überdeckt.

Der Angriff auf die Hafenstadt beginnt am 24. Februar 2022: Im Südwesten rücken russische Truppen von der Halbinsel Krim an, im Osten aus der russisch besetzten Region Donezk. Sie schneiden die Stadt weitgehend von der Versorgung ab.

Die russische Armee beschießt Mariupol hart: Am 9. März treffen Geschosse eine Geburtsklinik, eine Woche später das Stadttheater. Tausende kommen in diesen Wochen ums Leben. Am 17. März kesseln die Russen die Stadt ein. Die Bewohner leben ohne fließendes Wasser, Strom und Heizung. Sichere Fluchtwege gibt es fast nur nach Russland. Der Großteil der Einwohner verlässt dennoch Mariupol.

Langer Kampf um das Stahlwerk Asowstal

Die russischen Truppen dringen schrittweise in die Stadt ein und drängen die ukrainischen Verteidiger auf das riesige Gelände der Stahlwerks Asowstal zurück. In den Tunneln harren zeitweise auch 1000 Zivilisten aus.

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Die Russen gewinnen die Kontrolle über die Stadt, mit Ausnahme von Asowstal. Am 21. April befiehlt Russlands Präsident Wladimir Putin dessen Abriegelung. Luftwaffe, Artillerie und Kampfschiffe zerstören das Werk vollständig.

Am 16. Mai 2022 kapitulieren die Verteidiger. Die verbleibenden 1700 ukrainischen Soldaten geraten in russische Kriegsgefangenschaft. Nach 86-tägiger Belagerung fällt Mariupol an die Russen. Sie sichern sich damit die Landbrücke auf die Krim, die ihnen nach der Annexion der Halbinsel 2014 durch ukrainischen Widerstand verwehrt geblieben war.

Moskau feiert einen seltenen Erfolg in einem Krieg, der längst von Rückschlägen für die russische Seite geprägt ist. Im November verleiht Putin Mariupol den Ehrentitel einer „Stadt des Kriegsruhms“, um ihre politische Bedeutung zu unterstreichen.

Stahlwerk in Mariupol

Nur durch eine Kapitulation entgingen die ukrainischen Verteidiger im Asowstal-Werk ihrem sicheren Tod.


(Foto: Reuters)

Auch für die Ukrainer hat Mariupol weiterhin eine große Bedeutung. Als zentrales Symbol des Abwehrkampfes haben die Ukrainer die verlorene Metropole zur „Heldenstadt“ ernannt. Besonders das Schicksal der Kämpfer von Asowstal ist für die Ukrainer emotional besetzt.

Tote wurden anonym in Gärten und Parks beerdigt

Dazu beigetragen haben die Bilder der verwundeten Männer aus dem Stahlwerk. Ihre Rettung vor dem Tod beschäftigte im Frühling 2022 die politischen Ebenen beider Kriegsparteien: Wie CNN jüngst enthüllte, war die Kapitulation das Resultat von geheimen Verhandlungen zwischen Vertretern des russischen und ukrainischen Militärgeheimdienstes.

Viele der Verteidiger wurden in das Kriegsgefangenenlager Oleniwka gebracht. Bei einer Explosion im Lager im Juli 2022 kommen mehr als 50 Asow-Kämpfer ums Leben. Moskau beschuldigt Kiew, hinter dem Angriff zu stecken. Eine unabhängige Untersuchung verhindern die Russen.

Familienangehörige und NGOs halten mit Protesten und Interventionen den Druck auf Kiew hoch, die Kämpfer freizubekommen. Mehrere hundert kehren während des letzten Jahres im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zurück, obwohl die Russen die teilweise dem rechtsradikalen Milieu entstammenden Angehörigen des Asow-Bataillons pauschal als „Nazis“ betrachten. Die Überlebenden berichten von systematischen Misshandlungen.

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Nach der Besetzung Mariupols verschleiert Russland die Massaker unter der Zivilbevölkerung. Ukrainische Schätzungen gehen von 25.000 getöteten Zivilisten während der Belagerung aus. Moskau behauptet, der russische Beschuss habe keine Opfer gefordert, und beschuldigt die Ukrainer der Tötung von 3000 Menschen.

In der Stadt ist eine unabhängige Berichterstattung heute unmöglich. Aufschluss geben dafür Satellitenbilder der Firma Maxar: Auf ihrer Grundlage zählt die BBC 4600 neue Gräber seit Februar 2022 allein auf dem Friedhof von Stari Krim. Die Nachrichtenagentur AP geht von mehr als 10.000 neuen Grabfeldern an verschiedenen Orten aus.

Russland griff gezielt Zivilisten und Kinder an

Allerdings wurden wohl nicht alle Opfer beerdigt: Während der Belagerung waren die Retter mit der lebensgefährlichen Bergung überfordert. „An den schlimmsten Tagen mussten 100 bis 150 Leichen eingesammelt werden“, erinnert sich ein Augenzeuge gegenüber der BBC. Die Toten wurden daher oft behelfsmäßig in Gärten und Parks beerdigt.

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Die Russen haben viele von ihnen seitdem umgebettet. Bilder der Friedhöfe zeigen aber, dass die meisten Opfer unidentifiziert bleiben. Niemand weiß, wie viele Menschen in den Trümmern ihrer Häuser liegengeblieben sind. Diese Ungewissheit betrifft auch das wohl schlimmste Kriegsverbrechen in der Stadt: den Beschuss des als Schutzraum für Zivilisten und Kinder markierten Theaters am 16. März 2022.

Untersuchungen der AP und Amnesty International kamen zu dem Schluss, dass die Bombardierung gezielt erfolgt war. Während AP von bis zu 600 Toten ausgeht, schätzt Amnesty International ihre Zahl viel niedriger ein: Die Organisation hat ein Dutzend Opfer nachgewiesen, „es ist aber wahrscheinlich, dass viele weitere nicht gemeldet wurden“. Beide Untersuchungen stützen sich auf Augenzeugenberichte, die aber unterschiedliche Angaben über die Zahl der Schutzsuchenden am Angriffstag machten.

Beim Wiederaufbaus beseitigt Moskau nicht nur die Spuren von Kämpfen und Gräueltaten, sondern auch die der ukrainischen Identität: Das größtenteils abgerissene Theater soll in „Russisches Theater“ umbenannt werden, das Schild am Ortseingang trägt nun die russische Trikolore. Straßen erhalten sowjetische Namen zurück, Lehrpläne wurden russifiziert, ukrainische Denkmäler entfernt.

Neu gebauter Kindergarten in Mariupol

Noch immer leben Zehntausende Menschen in Häuserruinen. Neubauten sind rar und werden von den Besatzungsbehörden intransparent vergeben.

(Foto: IMAGO/SNA)

Russifiziert wird auch die Bevölkerung. Laut dem Uno-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, haben die Kämpfe 350.000 der einst 425.000 Bewohner vertrieben. Einige wurden wegen des Verdachts auf ukrainischen „Nationalismus“ verschleppt oder Kinder illegal zur Adoption freigegeben. An ihrer Stelle sind Soldaten, Beamte und Bauarbeiter aus Russland nach Mariupol gekommen.

Wenige Wohnungen als Druckmittel

Schätzungen über die gegenwärtige Bevölkerungszahl gehen weit auseinander. Die Ukrainer sprechen von 90.000, die Besatzungsbehörden von 230.000 und mehreren zehntausend Arbeitern und Soldaten.

An der letzteren Zahl sind Zweifel angebracht, weil für so viele Menschen schlicht kein Wohnraum zur Verfügung steht. Laut der UN beschädigten die Kämpfe 90 Prozent aller Wohngebäude. 50.000 Häuser müssen abgerissen werden. Letzte Woche verkündete ein Vertreter der Besatzungsbehörden, es seien bisher 2700 Wohnungen in Betrieb genommen und 37 neue Häuser gebaut worden. Stimmt diese Zahl, so böten sie eine Unterkunft für etwa 10.000 Menschen.

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Das wichtigste Prestigeprojekt ist das Newski-Quartier, das nach der „Schwesterstadt“ St. Petersburg benannt ist. Diese übernimmt auch die Kosten für den Wiederaufbau, die unabhängige Quellen auf umgerechnet bis zu 18 Milliarden beziffern. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Es ist dieser Stadtteil mit Wohnhäusern in hellen Farben, den Putin im März besuchte.

Der Präsident traf dort Bewohner, die ihm dafür dankten, in diesem „kleinen Stück Paradies“ leben zu dürfen. Laut russischen Medien erhalten diejenigen, die Wohnungen kostenlos, deren Häuser zerstört wurden.

Das Nachrichtenportal „Wjorstka“ hat Zugang zu internen Chats von Bewohnern erhalten, die über mehrere Fälle von Ausweisungen berichten. Begründet werden diese offiziell durch Formfehler.

Doch es liegt nahe, dass die extreme Knappheit an Wohnungen zu Begehrlichkeiten führt in einer Stadt, wo Menschen in halbzerstörten Häusern und Kellerräumen leben. Für die neuen Behörden ist dies ein weiteres Druckmittel: Sie belohnen jene, die sich am loyalsten verhalten beim Aufbau des neuen, „russischen“ Mariupol.

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