May 25, 2023
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Türkei: Warum die türkische Opposition nun auf Rechtsradikale setzt

Written by Ozan Demircan

Istanbul Kurz vor der Stichwahl um das Präsidentenamt am kommenden Sonntag hat sich der türkische Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu die Unterstützung einer rechtsextremen Gruppierung zusichern lassen. Der Vorsitzende der Partei des Sieges, Ümit Özdag, kündigte am Mittwoch an, sich hinter Kilicdaroglu zu stellen, der gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan antritt.

In einem Dokument der Partei Özdags und Kilicdaroglus CHP einigten sich die beiden darauf, „Migranten und Illegale“ binnen eines Jahres in ihre Heimat zurückzuschicken. Kilicdaroglu habe „sehr deutlich erklärt, dass die Flüchtlinge in ihr Heimatland zurückkehren sollten und dass dies die Politik ist, die er umsetzen wird“, sagte Özdag nach mehreren Gesprächsrunden mit dem 74-Jährigen. „Deshalb haben wir als Partei des Sieges beschlossen, Herrn Kilicdaroglu in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zu unterstützen.“

Kilicdaroglu selbst äußerte sich nur kurz zu der neuen Partnerschaft. „Im Hinblick auf die Zukunft der Türkei, im Hinblick darauf, ein friedliches Land zu sein und im Hinblick darauf, dass die Türkei ein gestärktes parlamentarisches System erreicht, trägt jede Partei Verantwortung“, sagte er während eines gemeinsamen Pressestatements mit Özdag.

Kilicdaroglu ist der gemeinsame Kandidat eines Sechs-Parteien-Oppositionsbündnisses, das sich zum Ziel gesetzt hat, den autoritären Kurs der Türkei unter Erdogan umzukehren und das Land zu einer parlamentarischen Demokratie mit verstärkten Kontrollmechanismen zurückzuführen.

Häufig gab er sich im Wahlkampf, etwa in Twitter-Videos, als gemäßigter Demokrat, dem es um Respekt, Menschenrechte und Gewaltenteilung geht. Angesichts wirtschaftlicher Turbulenzen und einer hohen Inflation ist die Stimmung gegenüber Migranten aufgeheizt. Die Frage der Rückführung ist eines der wichtigsten Wahlkampfthemen.

>> Lesen Sie hier: Die türkische Wirtschaft hat genug von „Erdonomics“

Auch das Regierungslager hatte in dieser Woche Unterstützung aus dem rechten Lager bekommen. Özdags Ankündigung folgte nur wenige Tage, nachdem Sinan Ogan, der drittplatzierte Kandidat in der ersten Wahlrunde am 14. Mai, seine Unterstützung für Erdogan erklärt hatte.

Obwohl ich Kemal Kilicdaroglu in Bezug auf die Grundsätze von Demokratie und Freiheit immer noch vertraue, kann ich in dem jetzt unterzeichneten Protokoll überhaupt keinen unserer Grundsätze erkennen. Emirhan Yörük, Gründungsvorsitzender des Jugendflügels innerhalb der oppositionellen Deva-Partei

Erdogan hatte in der ersten Runde der Präsidentenwahlen vor knapp zwei Wochen 49,5 Prozent der Stimmen erhalten und die erforderliche absolute Mehrheit knapp verfehlt. Kilicdaroglu erhielt 44,9 Prozent, Ogan 5,2 Prozent. Ogan war der gemeinsame Kandidat eines Bündnisses kleiner konservativer Parteien unter der Führung von Özdags Siegespartei, die bei den Parlamentswahlen jedoch nur 2,2 Prozent der Stimmen geholt hatte.

Inwieweit die Kooperation dem Erdogan-Herausforderer helfen dürfte, ist daher umstritten. Eine am Donnerstag veröffentlichte Umfrage des Instituts Konda sieht Amtsinhaber Erdogan mit 52,7 Prozent deutlich vor Kilicdaroglu, der demnach auf 47,3 Prozent kommt. Selbst wenn die 2,2 Prozent Wähler der Partei des Sieges allesamt Kilicdaroglu wählen sollten, würde dies nicht ausreichen.

„Alle Arten von faschistischen Ambitionen stoppen“

Mitglieder der sechs Parteien umfassenden Oppositionsallianz reagierten negativ überrascht. „Wir sollten uns an universelle Standards halten und alle Arten von faschistischen Ambitionen am Anfang ihres Weges stoppen“, erklärte Mustafa Yeneroglu, Gründungsmitglied der Deva-Partei, die zu Kilicdaroglus Bündnis gehört, in einem Tweet, in dem er allerdings nicht direkt Bezug nahm auf die angekündigte Unterstützung von Rechtsaußen.

Wahlplakat in Izmir

Der türkische Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu tritt in der Stichwahl am Sonntag gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan an.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Auch bei den Erstwählerinnen und Erstwählern, anfangs eine der Hauptzielgruppen der Opposition, kommt der Schritt nicht gut an. Emirhan Yörük, Gründungsvorsitzender des Jugendflügels innerhalb der oppositionellen Deva-Partei, sieht den Deal zwischen Kilicdaroglu und Özdag im krassen Gegensatz zum bisherigen Wahlkampf der Anti-Erdogan-Allianz.

„Obwohl ich Kemal Kilicdaroglu in Bezug auf die Grundsätze von Demokratie und Freiheit immer noch vertraue, kann ich in dem jetzt unterzeichneten Protokoll überhaupt keinen unserer Grundsätze erkennen“, sagte er dem Handelsblatt. „Unsere Allianz, deren wichtigste Grundsätze auf Versöhnung und Inklusivität basieren, und die Partei des Sieges, die auf Hass und Spaltung setzt – das passt nicht.“

Ein ranghohes Mitglied aus der Jugendabteilung der Iyi-Partei, der zweitgrößten Partei in der Oppositionsallianz, wird konkreter. „Ich werde in der Stichwahl meine Stimme nicht an Kilicdaroglu geben“, beschwert sich der Jungpolitiker, der namentlich nicht genannt werden möchte.

Die prokurdische HDP, die bisher den Oppositionskandidaten Kilicdaroglu unterstützt hatte, möchte diese Kooperation nun überdenken, wie die Partei bekannt gab. „In Zukunft werden Historiker diesen Tag als den großen Massenselbstmordversuch in der Politik bezeichnen“, sagte Ufuk Aras, ehemaliger Funktionär der HDP. 

Zufluchtsort

3,9

Millionen Flüchtlinge

beherbergt die Türkei laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

Die HDP will bis zum Wochenende eine endgültige Erklärung darüber abgeben, ob sie Kilicdaroglu unterstützen wird, sagte jedoch, dass das von Kilicdaroglu mit Özdag unterzeichnete Dokument Artikel enthält, die im Widerspruch zu universellen demokratischen Grundsätzen stünden.

Elf führende Funktionäre der Gelecek-Partei, ebenfalls Mitglied des Oppositionsbündnisses, gaben ihren Austritt aus der Partei bekannt, darunter einige Gründungsmitglieder. „Wir unterstützen keine Sprache des Hasses, mit der Flüchtlinge bedrängt werden, die Zuflucht in unserem Land suchen“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der elf Männer und Frauen.

„Jeder Politiker, der sich mit dem Thema auskennt, weiß, dass die Rückkehr syrischer Flüchtlinge mit vorübergehendem Schutzstatus von der Verwirklichung politischer Stabilität in Syrien abhängt und dass dies nur im Rahmen der Resolution 2254 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen geschehen kann“, sagt Khaled Khoja, ein syrisch-türkischer Politiker der Gelecek-Partei. 

Die Türkei beherbergt laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit 3,9 Millionen Schutzsuchenden die größte Flüchtlingsgemeinschaft der Welt – in dem Land leben demnach allein 3,7 Millionen Syrer. Nach Angaben von Innenminister Süleyman Soylu erhielten bisher 230.998 Syrer unter vorübergehendem Schutz die türkische Staatsbürgerschaft, im Wahlalter seien 130.914.

Politik per Faustkampf

Im ersten Wahlgang hatte Kilicdaroglu entgegen den Erwartungen vieler Demoskopen deutlich hinter Amtsinhaber Erdogan gelegen. Andere nationalkonservative Parteien schnitten im Gegenzug besser ab als prognostiziert. Auch wenn diese Parteien nicht offen gegen Flüchtlinge gewettert hatten: In einem offensichtlichen Versuch, nationalistische Wähler für die Stichwahl zu gewinnen, hatte Kilicdaroglu in der vergangenen Woche seinen Tonfall verschärft und versprochen, Flüchtlinge zurückzuschicken, falls er gewählt werde.

Der 62-jährige Rechtsaußen Özdag verkörpert mit seiner aggressiven Haltung das Gegenteil von Kilicdaroglu, der wegen seiner sanften Art bereits als „türkischer Ghandi“ bezeichnet worden war.

Im Mai vergangenen Jahres drohte Özdağ dem türkischen Innenminister mit einem Faustkampf. Als er und einige Unterstützer tatsächlich vor dem Ministerium erschienen waren, hielt die Polizei ihn von einem Eindringen ins Gebäude ab.

Flüchtlinge bezeichnete Özdag im vergangenen Jahr in einem vielbeachteten Video als Seuche. Nach dem Erdbeben behauptete er, ein syrischer Junge habe das Telefon eines türkischen Helfers gestohlen, und präsentierte dazu ein Video aus den Trümmern eines Hauses.

Der Junge, der auf dem Video klar zu erkennen war, ging zur Polizei – und dann selbst zum Fernsehen: Es stellte sich heraus, dass er Türke war und das Handy, das er angeblich gestohlen haben soll, sein eigenes ist.

Mehr: Investoren setzten auf die Opposition – jetzt führt Erdogan



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