Erdogan erhielt 49,5 Prozent der Stimmen und verfehlte damit knapp die für einen Gesamtsieg erforderliche absolute Mehrheit. Kilicdaroglu erzielte 44,9 Prozent, der inzwischen ausgeschiedene Drittplatzierte Sinan Ogan 5,2 Prozent. Jetzt liegt Erdogan in einer Umfrage des Instituts Konda mit 52,7 Prozent deutlich vor Kilicdaroglu mit 47,3 Prozent.
Und das, obwohl Erdogan in den Monaten vor der Wahl einige Rückschläge verbuchen musste. Im Winter erreichte die Inflation mit 85 Prozent ein Zwanzig-Jahres-Hoch, für Lebensmittel stiegen die Preise noch stärker. Im Wahlkampf machte eine Fotomontage von Erdogan die Runde, bei der eine Zwiebel seinen Kopf ersetzt. Zwiebeln sind ein wichtiger Bestandteil der türkischen Küche und innerhalb von drei Jahren zehn Mal teurer geworden. Ein Grafiker beklebte außerdem viele Bankautomaten in Istanbul mit einem Foto Erdogans und der Aufschrift daneben: „Inflation? Haben wir zu verantworten.“
Auch bei der Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar mit über 50.000 Toten machte Erdogan keine gute Figur. Zweimal musste er sich für die spät angelaufene Katastrophenhilfe entschuldigen.
Welche Macht Erdogan angehäuft hat, und welche Proteste dies hervorruft, zeigt die Abberufung des Rektors der Eliteuniversität Bogazici in Istanbul. Als Erdogan Anfang Januar 2022 den Rektor der Universität gegen einen parteinahen Professor ausgetauscht hatte, begannen die größten Demonstrationen der vergangenen Jahre. Bis heute protestieren Studierende und Lehrkräfte der Hochschule jeden Tag auf dem Campus gegen die Nominierung des neuen Rektors.
Mehr als 11,7 Millionen Türken haben ein AKP-Parteibuch
Wie lässt sich angesichts dieser politischen Fehler Erdogans Popularität erklären? Die Expertin Gönül Tol vom Middle East Institute in Washington erklärt gegenüber der Nachrichtenagentur AP: „In Zeiten nationaler Krisen wie dieser scharen sich Leute gewöhnlich um die Führungsperson. Die Wähler haben nicht genügend Vertrauen in die Fähigkeit der Opposition, Dinge in Ordnung zu bringen.“
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Dass dies allein Erdogans Popularität bei den Türken erklärt, darf angezweifelt werden. Dennoch hat Erdogan immer noch einen außergewöhnlich hohen Rückhalt in der Bevölkerung. Das beginnt schon bei der Anzahl der Mitglieder in seiner Partei AKP. Mehr als 11,7 Millionen Türkinnen und Türken haben ein AKP-Parteibuch – rund 50 Millionen Menschen haben am 14. Mai gewählt. Das macht bereits mehr als 20 Prozent der Wählerschaft aus, wenn man davon ausgeht, dass alle Parteimitglieder auch tatsächlich gewählt haben.
Sollte jedes Parteimitglied eine Kollegin, ein Familienmitglied oder einen Freund überzeugt haben, ebenfalls AKP und Erdogan zu wählen, errechnen sich daraus schon fast die 49 Prozent, die Erdogan im ersten Wahlgang erhalten hat.
Aber auch im Ausland erfreut sich Erdogan hoher Beliebtheit, vor allem in Deutschland. Schon bei den Wahlen 2018 holte er hierzulande ein deutlich besseres Ergebnis als im eigenen Land. In diesem Jahr erhielt Erdogan in Deutschland fast zwei Drittel aller abgegebenen Stimmen.
Doch warum wählen Menschen Erdogan, die von seiner Politik gar nicht betroffen sind? Haci-Halil Uslucan hat sich genau dieser Frage gewidmet. Der wissenschaftliche Leiter des Zentrums für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen stellte bereits 2018 in einer groß angelegten Untersuchung fest, dass es bei der Frage nach der Parteipräferenz von Türkeistämmigen in Deutschland weniger um demografische Merkmale geht oder um die Frage, wie gut oder schlecht jemand integriert ist.
„Die Parteipräferenzen der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen zeigen für Deutschland und die Türkei widersprüchliche Orientierungen, die sich für Deutschland auf die Programmatik zur Integrationspolitik und zur traditionellen Selbstverortung in der Arbeiterschicht zurückführen lassen, für die Türkei jedoch auf die ethnisch-religiöse Herkunft und Prägung“, erklärt Uslucan.
AKP-Anhänger in Deutschland fühlen sich hierzulande unterrepräsentiert
Gruppen, die sich der Türkei sehr und Deutschland wenig verbunden fühlen, neigen laut Uslucan deutlich häufiger zur AKP „als diejenigen Gruppen, die eher deutschlandverbunden oder bikulturell sind und eine große Nähe zu Deutschland aufweisen“. Fast 90 Prozent der Befragten, die in der Türkei die AKP wählen würden, gaben an, dass sie keinen oder nur geringen Einfluss auf die deutsche Politik ausüben könnten. Pikant: In der Umfrage wurden auch Türkeistämmige befragt, die den deutschen Pass oder beide Pässe besitzen und entsprechend hierzulande wählen dürfen.
Mit anderen Worten: Auch solche, die in Deutschland wählen dürfen, fühlen sich hierzulande unterrepräsentiert. „Die AKP-Affinität ist somit eng an die Stärkung der Identifikation mit der Türkei, die Wahrnehmung der türkischen Regierung als Interessenvertreterin und die als mangelhaft empfundene Vertretung durch deutsche politische Institutionen geknüpft“, fasst Uslucan zusammen. „Zugleich wurde aber auch deutlich, dass die hohe AKP-Neigung schon mindestens seit 2008 besteht und daher nur bedingt ein Produkt der bilateralen Spannungen zwischen den beiden Ländern ist.“
In der Türkei, wo jede Bürgerin und jeder Bürger von der Politik des Staatschefs direkt betroffen ist, ist es komplexer. Das beste Beispiel ist die türkische Wirtschaft. Denn vor allem viele Türkinnen und Türken aus der Mittel- und Oberschicht sind mit der Zeit deutlich wohlhabender geworden. Angesichts der ständig steigenden Preise fällt es schwer, sich das vorzustellen: Doch die Kaufkraft vieler Menschen im Land ist zuletzt in vielen Bereichen gestiegen.
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Ein Beispiel hilft, um dies zu belegen. Vor fünf Jahren mussten Bürger in dem Land das Äquivalent von sieben monatlichen Mindestlöhnen sparen, um ein MacBook der Marke Apple zu erwerben. Heute sind es nur noch 2,5 Monate. Diese höhere Kaufkraft gilt jedoch nicht für alle Produkte. So sind die Preise für Neuwagen sowie Grundstücke in der Türkei deutlich stärker gestiegen als die Einkommen.
Vor allem importierte Güter wie Laptops sind aber für viele im Land erschwinglicher geworden, wie verschiedene Statistiken belegen. Auch durch Investments konnte die türkische Mittel- und Oberschicht viel Geld verdienen. Der MSCI Turkey, ein passiver Indexfond mit Aktien aus dem Land, legte im Jahr 2022 um 91 Prozent zu – und das in Euro gerechnet. Einige Aktien wie die von Turkish Airlines stiegen binnen eines Jahres von umgerechnet 14 Euro auf 53 Euro – ein Plus von 378 Prozent.
Viele Türken fühlen sich von Europa und den USA im Stich gelassen
Die Unterschicht, einst eine der wichtigsten Wählergruppen Erdogans, bleibt bei solchen Entwicklungen außen vor: Arme Leute kaufen sich in der Regel weder Laptops noch Aktien. Hier jedoch überzeugt er viele Wählerschichten mit zwei Charaktereigenschaften, die man oft bei Populisten vorfindet. Erdogan bemüht sein Image als armer Junge aus dem Hafenviertel Istanbuls, der nie den Kontakt zu den einfachen Menschen verloren hat – und betont gleichzeitig, dass er es mit den Großen und Mächtigen der Welt aufnehmen kann.
Manch ein AKP-Wähler findet es toll, wenn Erdogan, der politische Emporkömmling, der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel Nazi-Methoden vorwirft. Erdogan ist einer, der glaubt, er zeige es dem Westen.
So denken auch viele Türken, die sich von den führenden Ländern in Europa sowie den USA im Stich gelassen fühlen. Sei es in der Flüchtlingskrise, bei Kriegseinsätzen, Terroranschlägen oder Putschversuchen: Viele Türkinnen und Türken, übrigens über das gesamte politische Spektrum verteilt, wünschen sich mehr Unterstützung aus dem Westen. Eine politische Partei, die diesen emotionalen Frust in ihrer Programmatik widerspiegelt, trifft in der Türkei auf eine breite potenzielle Wählerbasis.
Hinzu kommen Konservative, für die Erdogan quasi die letzte Rettung ist. Früher durften Frauen mit Kopftuch keine staatlichen Gebäude betreten, auch an Universitäten durften sie sich nicht einschreiben. Viele dieser Frauen haben daher immer noch Angst vor einem Systemwechsel. Auch wenn die Angst vor einer Wiedereinführung des Kopftuchverbots längst überholt sein dürfte: Es wählen immer noch viele konservative Frauen Erdogans AKP, weil sie in dieser Sache den anderen Parteien nicht trauen.
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Hinzukommen könnten nun sogar noch einige Bürgerinnen und Bürger, die eigentlich den Oppositionskandidaten wählen wollten. Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu stand für einen demokratischen Aufbruch, für Wandel und mehr Solidarität in der türkischen Gesellschaft.
Doch jetzt lässt er sich vor der Stichwahl vom xenophoben Politiker Ümiz Özdag interviewen, dessen Partei in den Parlamentswahlen gerade einmal 2,2 Prozent geholt hatte. Die Reaktionen sind deutlich: Mehrere Mitglieder aus Parteien des Anti-Erdogan-Bündnisses sind ausgetreten und beschwerten sich öffentlich über den politischen Schwenk von Kilicdaroglu.
„Ich werde ihn nicht mehr wählen“, sagte ein Funktionär der Iyi-Partei, die ebenfalls in dem Bündnis gegen Erdogan angetreten war. Der junge Politiker, der seinen Namen nicht nennen wollte, hat nun in der Stichwahl nur noch zwei Möglichkeiten: entweder gar nicht zu wählen – oder sein Kreuz bei Erdogan zu machen.
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