Berlin Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat die Dringlichkeit einer raschen Reform des EU-Asylsystems betont. „Wir müssen jetzt die richtigen Entscheidungen treffen, um die Migration in Europa endlich wirksam zu ordnen“, sagte Faeser dem Handelsblatt.
Seit Jahren gelingt es der Europäische Union (EU) nicht, ihre Flüchtlingspolitik zu reformieren. Aber auch die Krise 2015/2016 hat dafür wenig Impulse gebracht. Am kommenden Donnerstag werden die EU-Innenminister einen neuen Anlauf wagen: In Luxemburg beraten sie über die strittige Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).
Vor allem Staaten an den EU-Außengrenzen wie Italien und Staaten wie Deutschland, die das Ziel vieler Asylbewerber sind, haben mit Blick auf die Europawahlen im kommenden Jahr großes Interesse daran, dazu bald eine Einigung zu erzielen.
„Das ist ein gewaltiger Kraftakt“, sagte Faeser. Unabdingbar sei, „dass wir gleichzeitig ordnen, steuern und die irreguläre Migration klar reduzieren“. Trotz aller Widerstände in den Verhandlungen mahnte Faeser ein gemeinsames Handeln an. „Ich bin überzeugt, dass uns weitere tragfähige Kompromisse gelingen können“, sagte sie. Die jahrelange gegenseitige Blockade der EU-Staaten sei schon „durchschlagen“ worden, erklärte die SPD-Politikerin mit Blick auf schon beschlossene Verordnungen, nach denen jeder Einreisende in die EU an den Außengrenzen verlässlich kontrolliert und registriert werden muss.
Die EU-Staaten versuchen derzeit, sich auf Grundzüge einer GEAS-Reform zu verständigen. Dabei geht es unter anderem um die Frage, ob es Vorprüfungen von Asylanträgen schon an den europäischen Außengrenzen geben soll, um dort binnen kurzer Fristen über den Schutz von Menschen mit geringer Aussicht auf Asyl in der EU zu entscheiden.
Baerbock nennt Asylverfahren an den Grenzen „Fluch und Chance zugleich“
Faeser sagte dazu: „Diejenigen, die keinerlei Aussicht auf ein Bleiberecht in der EU haben, müssten von dort in ihre Heimat zurückkehren, bevor sie quer durch die EU reisen.“ Die Bundesregierung setze sich hierbei für einen „konsequenten Menschenrechtsschutz“ und für „faire“ Asylverfahren ein. „Kinder und andere vulnerable Gruppen wollen wir besonders schützen“, betonte die Ministerin.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte, die Ampel-Regierung wolle sich in den laufenden EU-Verhandlungen dafür einsetzen, „Familien mit Kindern unter 18 Jahren sowie alle unbegleiteten Minderjährigen generell aus den vorgesehenen Asylverfahren an den EU-Grenzen auszunehmen“.
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Auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) drängt darauf, dass niemand länger als einige Wochen in einem Grenzverfahren stecke und Minderjährige sowie Familien mit Kindern ausgenommen seien. Das Asylrecht dürfe nicht im Kern ausgehöhlt werden, sagte Baerbock den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Position ist in der Ampelkoalition aber nicht geeint. FDP-Fraktionschef Christian Dürr will in Asylvorprüfungen an den Grenzen auch Minderjährige einbeziehen.
Die Union kritisiert die Ausnahmeregelung ebenfalls. Die Regierung versuche, den Ursprungsvorschlag der EU-Kommission „an verschiedenen Stellen weiter aufzuweichen“, sagte der Parlamentsgeschäftsführer der Bundestagsfraktion, Thorsten Frei (CDU), dem Berliner „Tagesspiegel“ (Sonntag). „Wenn man Familien von den Verfahren an den Außengrenzen ausnimmt, schwächt das den Ansatz.“ Auf deren Bedürfnisse müsse und könne in den Verfahren selbst Rücksicht genommen werden.
Baerbock nannte Asylverfahren an den Grenzen „Fluch und Chance zugleich“. „Grenzverfahren sind hochproblematisch, weil sie in Freiheitsrechte eingreifen.“ Aber der Vorschlag der EU-Kommission hierzu sei die einzige realistische Chance, in einer EU von 27 sehr unterschiedlichen Staaten auf absehbare Zeit überhaupt zu einem „geordneten und humanen Verteilungsverfahren“ zu kommen.
„Aber auch ein Nichthandeln hätte bittere Konsequenzen“, mahnte die Grünen-Politikerin. Ohne eine gemeinsame europäische Antwort gehe der Trend schon jetzt überall zu „mehr Abschottung, mehr Pushbacks, mehr Zäunen“. Und ohne Ordnung an den Außengrenzen sei es nur eine Frage der Zeit, bis ein EU-Land nach dem anderen wieder über Binnengrenzkontrollen rede.
Der Reformvorschlag der EU fußt auf zwei Säulen. Asylbewerber mit wenig Aussicht auf Erfolg sollen ein Verfahren an den Außengrenzen durchlaufen und bei einer Ablehnung gleich von dort zurückgeführt werden. Die übrigen Flüchtlinge sollen solidarisch auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden, um die Länder an den Außengrenzen zu entlasten.
Polen und Ungarn verweigern die Aufnahme von Flüchtlingen zwar, könnten aber eine Einigung allein nicht verhindern, da im Rat der Mitgliedsstaaten eine qualifizierte Mehrheit genügt. Sollte die Reform in Kraft treten hätten Warschau und Budapest noch die Möglichkeit, sich von der Solidaritätspflicht freizukaufen.
Eine entscheidende Frage wird sein, ob sich Italien auf das Konzept einlässt. Die italienischen Behörden wären für einen großen Teil der Verfahren an den Außengrenzen zuständig. Um der Regierung in Rom die Zustimmung zu erleichtern, diskutieren die Mitgliedsstaaten über den Vorschlag einer Obergrenze für die Grenzverfahren: Wenn die Flüchtlingszahlen besonders hoch sind, sollen die Einwanderer in andere EU-Staaten weitergeleitet werden.
Auch die Bundesregierung tut sich mit dem EU-Plan schwer. Dass sich Deutschland mit der Forderung durchsetzt, Familien von den Grenzverfahren auszunehmen, gilt in Brüssel als unwahrscheinlich. Das könnte den Grünen die Zustimmung erschweren.
Andererseits ist klar: Die Kosten eines Scheiterns wären enorm.
Der grenzkontrollfreie Schengenraum geriete in Gefahr – und damit das reibungslose Funktionieren des europäischen Binnenmarkts.
Faeser warnt vor „Rückkehr der Schlagbäume an vielen europäischen Binnengrenzen“
Innenministerin Faeser schließt eine Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen an deutschen Außengrenzen nicht aus. Man wolle zwar „im Inneren ein Europa der offenen Grenzen bleiben“, sagte Faeser. Dafür brauche es aber einen „effektiven Schutz“ der Außengrenzen. „Anderenfalls droht eine Rückkehr der Schlagbäume an vielen europäischen Binnengrenzen – und die Menschen und die Wirtschaft in der EU wären um Jahrzehnte zurückgeworfen“, warnte die Ministerin und betonte: „Das müssen wir gemeinsam verhindern.“
Hintergrund der am Donnerstag angesetzten Beratungen der EU-Innenminister sind die gestiegenen Flüchtlingszahlen. Seit Monaten versuchen sehr viele Menschen, von Nordafrika aus über die gefährliche Mittelmeerroute Süditalien zu erreichen. Nach Angaben aus Rom kamen seit Januar mehr als 50.000 Migranten auf Booten nach Italien. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR starben seit Jahresanfang bei den Überfahrten mehr als 980 Menschen oder werden seither vermisst.
In Deutschland wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres gut 100.000 Asylerstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegengenommen, eine Zunahme um rund 78 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Faeser sieht außerdem Handlungsbedarf beim System zur Verteilung von Asylbewerbern. „Wir müssen uns auf eine Reform der bisherigen Dublin-Regeln einigen, um das unkontrollierte Weiterziehen in andere EU-Staaten zu verhindern“, sagte sie. „Und wir brauchen eine faire Verteilung in Europa.“
Dahinter steht der Gedanke, mit einem Verteilmechanismus für Flüchtlinge die Zugangszahlen in Deutschland begrenzen zu können, verbunden mit dem politischen Ziel der dem Erstarken der migrationsfeindlichen AfD etwas entgegenzusetzen.
Ob das gelingt, ist jedoch keineswegs sicher. Als möglicher Unsicherheitsfaktor gelten etwa die bevorstehenden Wahlen in Spanien und Griechenland. Beide Länder spielen eine zentrale Rolle, wenn es um das Gelingen der EU-Asylreform geht. Sie dürften ihre Zustimmung davon abhängig machen, inwieweit sie bei einer begrenzten EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen entlastet werden. Allerdings lehnen Polen, Ungarn und Tschechien jede Form der verpflichtenden Flüchtlingsaufnahme strikt ab.
Mehr: Asyl-Wende der Bundesregierung: Faeser fordert Schnellverfahren an der EU-Außengrenze
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