Jun 6, 2023
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Konjunktur: Die schwierige Kehrtwende in der türkischen Wirtschaftspolitik

Written by Ozan Demircan


Istanbul Kaum ist der neue türkische Finanzminister im Amt, bewegen sich zahlreiche Indikatoren in die richtige Richtung: Seitdem der wiedergewählte Staatschef Recep Tayyip Erdogan den Ökonomen Mehmet Simsek am Wochenende der Öffentlichkeit präsentiert hat, sind die Risikoaufschläge für Anlagen in türkische Werte innerhalb von Stunden um 200 Basispunkte gesunken. So tief war dieser Wert das letzte Mal vor den Wahlen am 14. Mai.

Der Börsenindex ISE100 stieg am Montag um fünf Prozent auf ein Drei-Monats-Hoch. Seit dem 28. Mai, als sich Erdogan in einer Stichwahl gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu durchgesetzt hat, liegt das Plus sogar bei 12,51 Prozent.

Erdogan hatte in den vergangenen Jahren mehrere Finanzminister und Notenbankchefs gefeuert, um seine Wirtschafts- und Geldpolitik durchzusetzen. Der Präsident ist ein selbsternannter Zinsfeind und will mit billigem Geld die Wirtschaft ankurbeln. Weil dadurch aber der Kurs der Lira verfällt, verteuern sich Importe und heizen die Inflation an. Im vergangenen Herbst kletterte die Teuerung auf bis zu 85,5 Prozent. Zuletzt kühlte sich die Inflation etwas ab, lag im Mai aber immer noch bei fast 40 Prozent.

Das neue Ziel ist klar: Mehmet Simsek, der schon einmal türkischer Finanzminister war und 2018 von Erdogans Schwiegersohn abgelöst wurde, soll die heimische Wirtschaft retten. „Transparenz, Konsistenz, Vorhersehbarkeit und die Einhaltung internationaler Normen werden unsere Grundprinzipien sein, um dieses Ziel in der kommenden Zeit zu erreichen“, erklärte er jüngst. „Der Türkei bleibt nichts anderes übrig, als zu einer rationalen Basis zurückzukehren.“

Doch der „Simsek-Effekt“ funktioniert noch nicht überall. Dollar und Euro stiegen gegenüber der Landeswährung Lira am Dienstagmittag (Ortszeit) um jeweils rund ein Prozent. Mit 21,49 beziehungsweise 22,99 Lira markierten sie jeweils ein Rekordhoch. Commerzbank-Analyst Ulrich Leuchtmann hofft, dass die Trendwende gelingt. „Aber allein Simseks Ernennung kann nicht Anlass sein, das zu prognostizieren. Nicht nach der Erfahrung der letzten Jahre.“

Die Großbank Goldman Sachs erhöhte ihre Drei-Monats-Prognose von 19 auf 23 Lira und die Sechs-Monats-Prognose von 21 auf 25 Lira pro Dollar. Nach zwölf Monaten soll der Wechselkurs demnach sogar bei 28 Lira pro US-Dollar liegen. Die Ratingagentur Fitch geht analog davon aus, dass sich das Wirtschaftswachstum des Landes auf 2,6 mehr als halbieren wird.

Das hat weniger mit Simsek zu tun als viel mehr mit der Geldpolitik seiner Vorgänger. Die Türkische Zentralbank hatte die Lira vor den Wahlen monatelang mit staatlichen Reserven gestützt. Ziel war, die Kaufkraft der Türkinnen und Türken vor den Wahlen zu stützen, um sie bei Laune zu halten.

Der neue Finanzminister findet nach fünf Jahren politischer Pause ein Land vor, dessen Geld- und Wirtschaftspolitik ins Chaos getrieben wurde. Die Reserven der Zentralbank sind, abgesehen von Deals mit den Notenbanken anderer Länder, längst in die roten Zahlen gerutscht.

Gleichzeitig hat Erdogans ultralockere Wirtschaftspolitik eine Aktivität entfesselt, die ihresgleichen sucht. Denn trotz der hohen Inflation können sich viele Menschen im Land mehr leisten als zuvor, dank kräftiger Lohnzuwächse sowie steigender Kurse an den Börsen.

JP Morgan rechnet mit kräftiger Zinsanhebung

So stieg der Mindestlohn binnen eines Jahres um fast 100 Prozent an, die Mindestrente sogar deutlich stärker. Auch Firmen passen teilweise mehrmals pro Jahr die Gehälter ihrer Mitarbeiter an. Der Indexfonds MSCI Turkey ist im Jahr 2022 um 91 Prozent angestiegen, in Euro gerechnet. Wer in der Türkei vor fünf Jahren ein Macbook von Apple kaufen wollte, musste dafür das Äquivalent von sieben Mindestlöhnen sparen. Heute reichen 2,5 Mindestlöhne.

Die Menschen im Land sind daran gewöhnt, dass mit den Preisen auch die Gehälter immer weiter ansteigen – und der Konsum nie nachlässt. Hier beginnen die Herausforderungen für Simsek. Experten von JP Morgan rechnen damit, dass der neue Finanzminister spätestens am 22. Juni, wenn der geldpolitische Rat der Türkischen Zentralbank das nächste Mal tagt, den Leitzins kräftig anheben wird, auf bis zu 25 Prozent. Derzeit liegt er bei 8,5 Prozent.

Die ökonomische Abkühlung ist zwar notwendig. Besonders die vielen billigen Kredite, die vor allem staatliche Banken herausgegeben hatten, lösten eine ungebremste Kaufkraft in Haushalten aus, aber auch bei Firmen und beim Staat selbst. Die Folge: Das meiste Kreditgeld wurde für Produkte und Dienstleistungen aus dem Ausland ausgegeben.

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Das Handelsdefizit des Landes stieg auf ein Rekordhoch. Weil gleichzeitig die Energiepreise im vergangenen Jahr weltweit angestiegen waren, stieg die Inflation für nahezu alle Güter im Land rapide an. Butter in der Türkei ist seitdem teurer als in Deutschland, Autos kosten mehr als doppelt so viel.

>> Lesen Sie hier: Warum Erdogans Wiederwahl die europäische Asylpolitik retten kann

Eine Verringerung der Nachfrage würde die Inflation dämpfen und die Preise stabilisieren. Doch damit steigt auch das Risiko, dass Unternehmen Stellen streichen. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund zehn Prozent für ein Schwellenland nicht besonders hoch. Aber steigende Zahlen könnten für Erdogan zum Problem werden, der schon vom nächsten Wahlkampf spricht: Ende März 2024 finden Kommunalwahlen statt.

Während Simseks Ernennung kurzfristig eine Finanz- und Wirtschaftskrise abwenden könnte, ist es unwahrscheinlich, dass sie den Weg zu einer völligen Kehrtwende in der Wirtschafts- und Geldpolitik ebnet, vermutet Wolfango Piccoli von der Beratungsfirma Teneo. „Anstatt ‚Erdonomics‘ aufzugeben, wird das neue Wirtschaftsteam der Türkei versuchen, es schrittweise anzupassen.“

Je näher die Kommunalwahlen rücken, desto enger würde Simseks Handlungsspielraum. „Der politische Gegenwind wird stärker.“ Piccoli sieht ein Risiko aufkommen: dass Simsek nach einer anfänglichen Phase, in der er tatsächlich Macht innehat, nach und nach an Glanz verlieren könnte. Er könnte viele Versprechen geben – aber wenige Ergebnisse liefern.

Mehr: Türkische Staatskonzerne erhöhen Preise um bis zu 40 Prozent



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