Brüssel, London Plötzlich unterbricht Mette Fredriksen ihre Rede im dänischen Parlament. „Was ich hier gerade gelesen habe, stammt nicht von mir. Oder von einem anderen Menschen“, sagte die Regierungschefin vergangene Woche. Ihr Manuskript sei von einer Künstlichen Intelligenz (KI) geschrieben worden, von den vermeintlichen Alleskönner-Programm ChatGPT. „Faszinierend und erschreckend zugleich“, resümierte sie.
Mit ihrer unkonventionellen Art hat sich Dänemarks Premierministerin einen Ruf weit außerhalb der eigenen Landesgrenzen erworben. Über ihre KI-Rede wurde auch in US-Medien ausführlich berichtet. Frederiksen zählt zu den erfolgreichsten Sozialdemokratinnen ihrer Generation. Bei ihrer Wiederwahl im November vergangenen Jahres erreichte ihre Partei das beste Ergebnis seit 20 Jahren.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Dänin nun für einen Spitzenjob in Brüssel gehandelt wird: Hochrangige Diplomaten bestätigten dem Handelsblatt, dass die 45-Jährige als Favoritin für die Nachfolge von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gilt, dessen Amtszeit im Oktober endet. Stoltenberg hat wiederholt deutlich gemacht, dass er keine Verlängerung seines Mandats anstrebe.
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Möglich sei aber, so heißt es in Brüssel, dass Stoltenberg doch noch ein paar Monate länger im Amt bleibt, um Frederiksen genug Zeit für eine geordnete Regierungsübergabe einzuräumen. Eine Entscheidung über Stoltenbergs Vorgehen könnte auf dem Nato-Gipfel im Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius fallen.
Für Frederiksen spricht aus Sicht ihrer Befürworter vor allem, dass sie Führungsstärke bewiesen hat. Dänemark zählt zu den stärksten Unterstützern der Ukraine in Europa. Zuletzt hat die dänische Regierung angekündigt, deutlich mehr für das Militär auszugeben. Spätestens 2030 will das Land das Nato-Ziel, wonach Bündnispartner einen Betrag in Höhe von zwei Prozent der Wirtschaftskraft in die Verteidigung investieren sollen, erreicht haben.
Frederiksen wäre die erste Frau an der Spitze der Nato
Auch die Tatsache, dass Frederiksen eine Frau ist, spielt eine Rolle: Die Nato wurde in ihrer bald 75-jährigen Geschichte bisher nur von Männern geführt. Dass die Premierministerin noch diesen Monat von US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus empfangen wird, nährt die Spekulationen in Brüssel zusätzlich.
Unbehagen bereitet einigen Nato-Staaten allerdings, dass mit Frederiksen das Amt erneut nach Nordeuropa ginge. Amtsinhaber Stoltenberg ist Norweger. Sein Vorgänger war der Däne Anders Fogh Rasmussen. Auch Rasmussen war vor seiner Berufung nach Brüssel dänischer Premier. Bisher stammten die Generalsekretäre alle aus Nord-, Süd- oder Westeuropa.
Gefährlich werden könnte Frederiksen der britische Verteidigungsminister Ben Wallace. Die Regierung in London wirbt seit Wochen für den 53-jährigen Konservativen. Premierminister Rishi Sunak wird seinen Besuch in Washington am Donnerstag dazu nutzen, Wallace bei US-Präsident Joe Biden als geeigneten Kandidaten zu präsentieren.
„Großbritannien war immer ein führender Beitragszahler zur Nato, hat seine Zwei-Prozent-Verpflichtung erfüllt. Wir haben bei Nato-Operationen eine führende Rolle gespielt und werden als Vordenker wahrgenommen“, sagte Sunak vor seiner Abreise nach Washington. Wallace, der seit 2019 das Verteidigungsressort führt, werde weltweit für die militärische Unterstützung der Ukraine respektiert.
Großbritannien hat starke Argumente für Ben Wallace
Damit führte Sunak zugleich die zwei stärksten Argumente für seinen Kandidaten ins Feld: Großbritannien hat anders als Dänemark seine finanziellen Nato-Verpflichtungen übererfüllt und strebt langfristig sogar an, 2,5 Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben. Die Briten haben sich darüber hinaus mit ihren frühzeitigen Waffenlieferungen an die Ukraine den Ruf erworben, der Aggression Putins entschlossen die Stirn zu bieten – mehr noch als Dänemark. Vor allem in Osteuropa kommt das gut an.
Wallace selbst hat nicht nur sein Interesse an den Nato-Chefposten bekundet, sondern auch gleich klargemacht, wohin er das Bündnis führen würde: „Die Welt wird immer gefährlicher, unsicherer und ängstlicher, und der nächste Generalsekretär muss in der Lage sein, die nötigen Mittel bereitzustellen, um sicherzustellen, dass das nicht aus dem Ruder läuft“, sagte der Brite der „Washington Post“.
Mit anderen Worten: Wallace, der seine Militärzeit zum Teil in Deutschland verbrachte, wird die Nato-Mitglieder drängen, ihre Verteidigungsausgaben weiter zu erhöhen. „Die Nato muss sicherstellen, dass ihre Mitglieder den Aufgaben gewachsen sind, und einige Mitglieder sind fitter als andere“, betonte er.
In Brüssel gilt Wallace dennoch als Außenseiter. Insbesondere aus Frankreich, so heißt es, kommt Widerstand. Wallace ist nach dem Geschmack der Franzosen zu amerikanisch in seinem sicherheitspolitischen Denken. Frederiksen könnte am Ende die Kandidatin sein, mit der alle leben können.
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