Brüssel Nach einem langen Verhandlungstag haben sich die 27 EU-Innenminister auf eine weitreichende Reform des europäischen Asylsystems verständigt. Die Entscheidung wurde am Donnerstagabend mit qualifizierter Mehrheit getroffen. Einige Länder, darunter Polen und Ungarn, wollten dem Kompromiss nicht zustimmen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zeigte sich erleichtert und dankte ihren Kollegen für eine „historische Entscheidung“. Das sei für viele nicht leicht gewesen, nun müsse man an der konkreten Umsetzung arbeiten, sagte sie.
Mit der Reform wollen die Minister ein funktionierendes europäisches Asylsystem etablieren, nachdem zuletzt die nationalen Alleingänge zugenommen hatten. Zum einen soll die Reform die Flüchtlingszahlen in ganz Europa senken und zum anderen die Lasten zwischen den EU-Staaten besser verteilen. Das Paket enthält zwei zentrale Neuerungen:
- Schnellverfahren für Asylbewerber an den EU-Außengrenzen: Wer aus einem Land mit geringer Anerkennungsquote kommt, soll künftig schon an der Grenze seinen Antrag stellen müssen und den Ausgang des Verfahrens einige Wochen oder Monate lang in einem gesicherten Auffanglager an der Grenze abwarten. Abgelehnte Asylbewerber würden dann direkt wieder ausgeflogen, ohne in die EU eingereist zu sein. Die Regierungen erhoffen sich einen Abschreckungseffekt: Das Verfahren soll Migranten davon abhalten, sich überhaupt auf den Weg Richtung Europa zu machen.
- Solidaritätsmechanismus: Eine Zwangsverteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas soll es nicht geben, weil sich einige osteuropäische Länder weigern, Mittelmeerflüchtlinge aufzunehmen. Aber kein Staat soll sich dem neuen Solidaritätsmechanismus entziehen können: Wer keine Flüchtlinge aufnehmen möchte, muss stattdessen eine Ausgleichszahlung leisten, um den Mittelmeerstaaten zu helfen.
Die Einigung der Innenminister ist noch nicht der endgültige Durchbruch, das Europaparlament muss der Reform noch zustimmen. Da viele Abgeordnete die harte Linie der Mitgliedstaaten ablehnen, werden noch Änderungen erwartet.
Grüne kündigen Widerstand an
Der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, Rasmus Andresen, kündigte bereits an, dass das Paket bei ihnen auf entschiedene Ablehnung stoße. Mit den Schnellverfahren drohten „menschenrechtswidrige Masseninternierungen an den EU-Außengrenzen“.
Vizekanzler Robert Habeck verteidigte die Einigung trotz aller Vorbehalte. „Dass die EU trotzdem zusammenfinden kann, ist gerade in einer Zeit, in der wir als Union zusammenstehen müssen, ein Wert“, sagte der Grünen-Politiker am Donnerstagabend der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Ich habe hohe Achtung vor denen, die aus humanitären Gründen zu anderen Bewertungen kommen. Ich hoffe, sie sehen auch, dass es Gründe gibt, dieses Ergebnis anzuerkennen.“
Polen und Ungarn wollen Niederlage nicht hinnehmen
Die EU-Minister waren erleichtert, endlich einen Kompromiss gefunden zu haben. Der Druck war groß: Seit drei Jahren beraten die Staaten schon über das Asylpaket. Es gebe keine Ausrede mehr, sich nicht zu einigen, hatte die schwedische Ratsvorsitzende Maria Malmer Stenegard am Morgen gesagt.
Auch Faeser drang auf eine Entscheidung, weil sonst eine Rückkehr der nationalen Grenzkontrollen drohe. „Wenn es heute nicht gelingt, ist der Schengen-Raum in Gefahr.“
Die Verhandlungen zogen sich dennoch bis in den Abend hin. Polen und Ungarn signalisierten gleich zu Beginn, dass der Kompromiss inakzeptabel sei. Polen solle mit Geldzahlungen „bestraft“ werden, wenn es keine Flüchtlinge aus dem Mittelmeerraum aufnehme, sagte der Vize-Innenminister Bartosz Grodecki. Das könne man der polnischen Bevölkerung nicht erklären, die gerade eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen habe.
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Auch kritisierte Grodecki, dass die Reform mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden sollte. Aus seiner Sicht müsste eine Entscheidung von solcher Tragweite einstimmig getroffen werden – und zwar von den Regierungschefs.
Das Nein von Polen und Ungarn war erwartet worden. Es kam auch nicht auf ihre Stimmen an, denn solange kein weiterer großer Mitgliedstaat sich den Gegnern anschloss, konnten diese einfach überstimmt werden. Für die qualifizierte Mehrheit genügen 15 Staaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
Zusätzliche Hilfen für die Mittelmeerstaaten
Spanien und Frankreich schienen den Kompromiss mitzutragen, aber Italien, Griechenland und Malta meldeten zunächst Bedenken an. Ihnen reichte die Unterstützung der anderen Staaten noch nicht aus. Da sie die neuen Auffanglager an den Grenzen einrichten und betreiben sollen, fürchten sie, auf den Kosten sitzenzubleiben.
Die drei „Frontstaaten“ im Mittelmeer konnten nicht einfach überstimmt werden, weil der Pakt dann keinen Bestand hätte. Deshalb mussten weitere Änderungen an dem Kompromissvorschlag her, bis auch Italien und Griechenland an Bord waren. Malta enthielt sich bis zum Schluss.
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson versprach, dass die Kommission „mindestens eine Milliarde Euro“ aus dem EU-Haushalt bereitstellen werde, um die Schnellverfahren an den Außengrenzen auf den Weg zu bringen. Italiens Innenminister Matteo Piantedosi zeigte sich mit den Zusicherungen schließlich zufrieden. „Wir müssen sicherstellen, dass die Grenzverfahren möglich sind“, sagte er. Heute sei der Tag, an dem etwas Neues beginne.
Gesetz soll vor der Europawahl beschlossen werden
Deutschland blitzte mit der Forderung ab, Familien von minderjährigen Kindern von den Schnellverfahren auszunehmen. Eine große Mehrheit der anderen Staaten lehnte dies ab. Faeser will sich aber noch nicht geschlagen geben. Sie kündigte an, dass Deutschland zusammen mit Irland, Portugal und Luxemburg die Ausnahmeregelung in den Verhandlungen mit dem Europaparlament wieder vorschlagen werde.
Die Vertreter Polens und Ungarns beschwerten sich, dass ihre Einwände gegen den verpflichtenden Solidaritätsmechanismus überstimmt wurden. Dies verstoße gegen Beschlüsse des EU-Gipfels. Sie kündigten an, dass ihre Regierungschefs Viktor Orban und Mateusz Morawiecki das Thema auf dem nächsten EU-Gipfel Ende Juni ansprechen werden.
Die Einigung war auch deshalb wichtig, weil im Juni 2024 die Europawahl ansteht und die ungelöste Asylfrage nicht den Wahlkampf dominieren sollte. Die anstehenden Verhandlungen mit dem Europaparlament sollen im Idealfall nun bis Jahresende abgeschlossen werden. Dann könnten die Gesetze noch vor der Wahl beschlossen werden. Sonst könnten veränderte politische Kräfteverhältnisse Neuverhandlungen nötig machen.
Mehr: „Nationale Grenzen wären absolutes Desaster“ – Wirtschaft fordert EU-Asylreform
Mit Agenturmaterial.
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