Awdijiwka Im regnerischen Mai ist die karge Vegetation des Donbass aufgeblüht. Am Straßenrand ziehen grüne Bäume und Wiesen vorbei, Ziegen grasen neben wilden Pferden. Doch die Idylle täuscht. „Der Bauer hat sie ausgesetzt, als er fliehen musste“, sagt Maxim, Kampfname „Ljuti“, am Steuer seines verschlammten Mercedes.
Plötzlich knallt es: Ein russisches Geschoss ist in der Nähe eingeschlagen, „zu nah“, wie der Major findet. Er drückt das Gaspedal durch und beschleunigt auf 160 Kilometer pro Stunde, im Zickzackkurs zwischen Pfützen und Kratern.
Die Straße nach Awdijiwka ist wohl eine der gefährlichsten der Welt. Die Russen haben den Ort mit einst 34.000 Einwohnern von drei Seiten eingeschlossen, den ukrainischen Verteidigern bleibt ein Versorgungskorridor von knapp zehn Kilometer Breite, zeigen aktuelle Karten.
Nicht ohne Grund vergleichen Beobachter die Kleinstadt mit Bachmut, Wuhledar und Marjinka: Hier, im Zentrum der Donbass-Front, toben seit Februar 2022 einige der heftigsten Schlachten des Ukrainekriegs.
Obwohl die Russen offenbar regelmäßig Sturmangriffe durchführen, kontrollieren die Ukrainer weiterhin das Stadtgebiet. Für Kiew hat Awdijiwka strategische Bedeutung: Die Großstadt Donezk, ein Knotenpunkt des russischen Militärs, liegt so nah, dass das Zentrum von hier aus zu sehen ist. Moskau will den Feind unbedingt vertreiben und legt Awdijiwka durch Artillerie, Raketen sowie Flugzeugbomben in Schutt und Asche.
Zerstörtes Krankenhaus
Die Zivilbevölkerung erlebt die Kämpfe als endlosen Albtraum. Kein Gebäude in Awdijiwka ist unversehrt. Auf der Fahrt ins Stadtzentrum begegnen uns nur Ruinen. Von jenen Häusern, die Raketen getroffen haben, sind nur noch Trümmerhaufen übrig. Andere scheinen fast intakt. Doch schwarze Brandspuren übersäen ihre Außenmauern. Es fehlen die meisten Dächer, Fenster und Türen.
Allen Evakuierungsaufrufen zum Trotz leben weiterhin 1700 Menschen in der Stadt, heißt es auf der Nachrichtenseite „Euromaidan Press“. Da die Russen wohl jegliche zivile Infrastruktur zerstört haben, gibt es in Awdijiwka keine Feuerwehr mehr, keine Krankenwagen und nur ein notdürftig funktionierendes Krankenhaus.
Vor dem Krieg gehörte das Zentrale Stadtkrankenhaus zu den modernsten im ganzen Land, mit Covidabteilung und gut ausgestatteten Operationsräumen. 178 Mitarbeiter habe er gehabt, sagt der medizinische Leiter Witali Sitnik. Nun seien es dreizehn. „Fast alle leben hier, da sie keine Wohnungen mehr haben“, erzählt der 55-Jährige, während er durch das halbwegs intakt gebliebene Erdgeschoss führt.
Die oberen Stockwerke sind zerstört; die letzte Rakete schlug Mitte Mai ein, ihre Trümmer liegen immer noch im Hof. Bis vor Kurzem konnten Patienten und Angestellte in einen Schutzkeller mit Betten, Vorräten und Medikamenten fliehen, um sich vor Angriffen zu schützen. Doch da die Kanalisation zerstört ist, haben starke Regenfälle das Grundwasser hochdrücken lassen. Die Betten stehen nun in einem kleinen See.
„Wir haben hier praktisch täglich Tote und Verletzte“, sagt Sitnik. An diesem Morgen war es bisher unüblich ruhig, „aber der Tag ist noch lang“. Die Mediziner können nur das Nötigste tun: Sie reinigen Wunden und stabilisieren die Patienten, damit sie transportfähig werden. So zu arbeiten sei schwierig, sagt Sitnik. „Ich möchte anders leben“, antwortet er auf die Frage, ob er daran denke, Awdijiwka zu verlassen. „Aber jemand muss den Menschen hier ja helfen. Außer uns gibt es niemanden.“
Eine staatliche Versorgungsstelle
Nicht nur die medizinische Behandlung der Zivilisten gestaltet sich zunehmend unmöglich. Da alle Läden geschlossen wurden, bringen praktisch nur noch Freiwillige Lebensmittel in die Stadt. Die einzig verbliebene staatliche Versorgungsstelle ist ein Ende März eröffneter „Punkt der Unbezwingbarkeit“. So nennt die ukrainische Regierung lokale Räume, in denen die Zivilbevölkerung Schutz und lebenswichtige Dienstleistungen finden kann.
Der Luftschutzkeller liegt in einem Hinterhof, an der Wand eines ausgebrannten Gebäudes steht „Gott liebt die Infanterie“. In den fünf Räumen bewegen sich jedoch nur Zivilisten. An sechs Tagen pro Woche versorgen die zehn Mitarbeiter jeweils knapp 200 Männer und Frauen. Hier gibt es eine warme Dusche, heißen Kaffee, Internet, einen Fernsehanschluss – und sogar Desserts. „Die Leute nennen uns ‚die süßen Frauen‘“, verkündet Ljudmila. „Ein Mann sagte sogar einmal, bei uns sei es wie im Himmel.“
Das lässt erahnen, unter welchen Bedingungen die verbliebenen Zivilisten in Awdijiwka hausen. Die wenigen, deren vier Wände überhaupt noch bewohnbar sind, leben unter ständigem Beschuss, ohne fließendes Wasser und Wärme, in Dunkelheit. „Die Leute sind extrem isoliert“, sagt Marina, die Leiterin des Zentrums, die wie alle Mitarbeiter aus Angst ihren Nachnamen nicht angeben will. Die Einwohner kämen hierher, um ein paar Stunden lang so etwas wie Normalität zu spüren.
Die Unruhe und die Furcht, die den Alltag prägen, übertragen sich auch auf den Keller. Die Leute seien nervös und fahrig, beobachtet die 45-jährige Leiterin des Zentrums. Sie habe diese Aufgabe nur deshalb übernommen, weil niemand anders mehr da gewesen sei. „Viele kommen betrunken hierher, das ist das Einzige, was wir nicht tolerieren.“ Besonders dankbar seien die meisten aber nicht, findet die ehemalige Krankenschwester.
Kriegsmüde Bevölkerung
Marina deutet damit an, dass die verbliebenen fünf Prozent der Stadtbevölkerung keine besonders proukrainische Haltung haben. So sagen will sie das aber nicht. Sie beschreibt die Menschen in der Stadt als Lokalpatrioten und Leute, die nirgends hinkönnten oder ihre Tiere nicht zurücklassen wollten. Um Politik gehe es nicht. „Sie wollen schlicht, dass der Beschuss endlich aufhört.“
Angst und Misstrauen sind in Awdijiwka allgegenwärtig. Auf den Gehwegen und in den Höfen sind zwar Menschen zu sehen. Doch sie verschwinden, sobald unbekannte Leute oder das Militärfahrzeug von Maxim „Ljuti“ auftauchen.
Mit seinem Mercedes bringt er uns zur Stellung seiner Militärpolizei-Einheit: Das sogenannte Sitsch-Bataillon untersteht dem Innenministerium, hat seine Wurzeln aber in einer Miliz von Freiwilligen.
Gegründet wurde diese von der rechtsextremen Partei Swoboda. Der Major, der seit 2014 in Awdijiwka dient, bezeichnet sich als „rechten, staatstreuen Nationalisten“. Liberale möge er nicht, Russen noch viel weniger. Dennoch sieht er die Ukraine als multiethnischen Staat, der in den Grenzen von 1991 wiederhergestellt werden müsse. Weitergehende territoriale Ansprüche lehnt der 36-Jährige ab.
Die Lage in Awdijiwka frustriere ihn, sagt er. Viele der hier verbliebenen Einwohner seien prorussisch eingestellt. Die Aufgabe seines Bataillons bestehe darin, den Soldaten an den Flanken der Stadt den Rücken freizuhalten.
In einem ehemaligen Lebensmittelgeschäft stationiert, bekämpft die Einheit russische Saboteure, die versuchten, in die Stadt einzudringen, und Schläferzellen. „Wir könnten die ganzen ‚Schduni‘ an einem einzigen Tag umbringen“, sagt der studierte Jurist „Ljuti“ über jene „Wartenden“, die die Russen gerne willkommen heißen würden. „Aber wir halten uns strikt an die Gesetze.“
Misstrauen gegen ukrainische Soldaten
Da aus der vom Internet abgeschnittenen Stadt kaum Nachrichten nach außen dringen, lässt sich die Behauptung nicht überprüfen. Erstaunlich ist jedoch, dass sich die Soldaten trotz der ständig hörbaren Explosionen frei mit uns durch das Quartier bewegen.
Immer wieder fällt das offensichtliche Misstrauen der Menschen gegenüber den Uniformierten und den behelmten Journalisten auf. „Die Hälfte der Bewohner ist für, die Hälfte gegen uns“, kommentiert ein Soldat mit dem Kampfnamen „Schtrich“. „Sie geben uns die Schuld am russischen Beschuss.“ Die Wahrnehmung der Bewohner hat ihre eigene Logik, da sich die ukrainischen Stellungen in Wohngebieten befinden.
Laut „Schtrich“ überwachen die Russen die Stadt mit Drohnen und schießen auf alles, was nach ukrainischem Militär aussieht. „Dabei treffen sie meist die Häuser der Zivilisten.“ Als er aber durch die Ruinen einer fast neuen Schule führt, ringt er mit der Fassung. „Hier hatten wir nie eine Position“, stellt der 29-Jährige klar.
Aus der Tür eines Wohnhauses tritt unvermittelt eine Frau. Sie hält eine Kerze in der Hand. „Unsere drei Nachbarn liegen immer noch dort“, sagt sie und weist auf einen Trümmerhaufen, der kaum mehr als Haus erkennbar ist. „Das ist jetzt ihr Grab. Wir erinnern uns an sie“, sagt sie unter Tränen. „Schtrich“ wendet sich ab. Eine Bergung sei leider nicht möglich, da es in der Stadt keine schweren Maschinen dafür gebe. „Und hätten wir sie, würden sie die Russen sofort bombardieren.“
Die Stärke der Defensive
„Schtrich“ und „Ljuti“ kennen Awdijiwka aus friedlicheren Zeiten, und sie erlebten, wie es sich nach den Kämpfen im Zuge von Russlands Aggression im Donbass 2014 sogar vorübergehend erholte.
Nun ist das nur noch eine ferne Erinnerung. „Verglichen mit Bachmut und Marjinka blieb Awdijiwka relativ intakt. Aber das ist eine Frage der Zeit“, meint „Schtrich“. Sie müssten die Stadt unter allen Umständen verteidigen. „Hier hat der Krieg begonnen, und hier müssen wir schauen, dass der Rest des Landes sicher ist.“
Ob dies gelinge, hänge natürlich stark von der Gegenoffensive ab, wirft sein Vorgesetzter „Ljuti“ ein. Die zunehmenden Kämpfe an verschiedenen Frontabschnitten seit dem Wochenende deuteten darauf hin, dass zumindest die Vorbereitungen in eine heiße Phase treten.
Auch an der Südflanke von Awdijiwka wurden größere ukrainische Vorstöße gemeldet. Dennoch vermutet der Major den Schwerpunkt anderswo: „Es sieht momentan eher danach aus, als ob wir in der Defensive blieben.“
So berichtet das Handelsblatt über den Ukraine-Krieg:
Allerdings hätten die Russen jüngst Einheiten der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk von Awdijiwka nach Bachmut verlegt, um die „Wagner“-Paramilitärs dort zu ersetzen. Wenn die Offensive an Stärke gewinne, müsse der Feind weitere Truppen abziehen, hofft der Offizier.
Dann könne seine Einheit auf Donezk vorrücken. „Der beste und der schlechteste Fall liegen in Awdijiwka nahe beisammen. Entweder können wir Russlands Hydra ins Herz stechen. Oder wir werden umzingelt und sind verloren.“
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