Wien Seit einer Woche läuft die lang erwartete ukrainische Gegenoffensive. Präsident Wolodimir Selenski spricht offiziell zwar nur kryptisch von „Gegenoffensiv-Aktionen“, mancher Beobachter von „bewaffneter Aufklärung“. Doch die Meldungen aus der Südukraine und dem Donbass lassen keinen Zweifel daran, dass die Kampfhandlungen eine neue Intensität erreicht haben. Erstmals beteiligt sind auch neu ausgebildete und mit westlichen Waffen ausgerüstete ukrainische Kräfte.
Laut dem „Ukraine Conflict Monitor“ konzentrierten sich die Attacken mit zehn Brigaden auf die Region Saporischschja. Mitte vergangener Woche mussten die Ukrainer ihre Angriffe südlich der Stadt Orichiw nach empfindlichen Verlusten abbrechen: Die 47. Brigade verlor drei Leopard-2-Panzer, drei schwere Minenräumfahrzeuge und über ein Dutzend Schützenpanzer – Technik aus Nato-Staaten, die kürzlich an Kiew geliefert worden war.
Weiter östlich, an der Grenze der Oblaste Saporischschja und Donezk, waren die Ukrainer etwas erfolgreicher. Sie befreiten südlich von Welika Nowosilka fünf Dörfer und eroberten 60 Quadratkilometer Terrain zurück. Auf dieser Achse konnten die Truppen den Druck hoch halten, weitere Vorstöße sind möglich. Im ländlich geprägten Abschnitt sind die russischen Verteidigungsstellungen offenbar etwas weniger stark ausgebaut.
Die Bedeutung dieser Kämpfe lässt sich noch nicht wirklich abschätzen. Es bleibt unklar, wo Kiew den Hauptstoß setzen wird. Russische wie ukrainische Militärexperten weisen darauf hin, dass die Erfolge des Wochenendes auch mit dem schlechten Wetter zusammenhingen: Dieses erschwerte den Russen die Nutzung ihrer Luftüberlegenheit.
Auch wenn die Ukrainer den Großteil der westlichen Ausrüstung bislang in Reserve halten, sorgen die Aufnahmen von ausgebrannten Bradley-Schützenpanzern für Nervosität: Sie zeigen, dass die Zahl der gelieferten Kampfmaschinen beschränkt ist; in einer Schlacht können sie rasch zerstört werden.
Russland verbreitet Zerstörungsvideos in Endlosschleifen
Moskau verbreitet die Bilder des ukrainischen Rückschlags mit großem Elan. Videos der zerstörten Fahrzeuge laufen auf sozialen Netzwerken in Endlosschleifen. Gezeigt werden sie aus verschiedenen Perspektiven, um den Eindruck zu erwecken, sie stammten von mehr als einem Ort. Gleichzeitig ist die Rede von Dutzenden zerstörten Panzern – Propaganda, die auch ein Teil der Weltöffentlichkeit unkritisch glaubt. Präsident Wladimir Putin hat die Gegenoffensive bereits für gescheitert erklärt. Sie habe keines ihrer Ziele erreicht.
Kiew hat deshalb jüngst sein Schweigen zum Gang der Offensive relativiert. Zwar publizierte der Chef des Militärgeheimdienstes, Kirilo Budanow, am Sonntag ein Video: Darin sitzt er 30 Sekunden lang schweigend in seinem Büro, bevor der Text „Pläne mögen Stille“ eingeblendet wird. Militärsprecher aber feiern jedes unbekannte Dorf, das die Hand wechselt, und propagieren ihrerseits zahllose Videos mit fahnenschwingenden ukrainischen Soldaten.
Einerseits wollen die Ukrainer möglichst wenig Informationen preisgeben, um die Russen nicht vorzuwarnen. Ein wirklicher Überraschungseffekt ergibt sich daraus angesichts der logischen Angriffsachsen jedoch nicht. Um die eigene Bevölkerung sowie die westlichen Partner zu beruhigen und die Verluste zu rechtfertigen, braucht Kiew aber Erfolgsmeldungen.
Diese Widersprüche sind nicht neu, sondern zeigten sich bereits bei den erfolgreichen Offensiven im vergangenen Jahr. Allerdings gelangen die Durchbrüche im Gebiet Charkiw schnell und überraschend. In Cherson hingegen drangen praktisch keine Informationen über die monatelangen blutigen Kämpfe an die Öffentlichkeit. Heute sind die Ungeduld im Ausland und der Erfolgsdruck deutlich höher.
Die Ukraine hat ihre Kommunikation zur Gegenoffensive teilweise ausgebaut.
(Foto: AP)
Dies hat mit der wachsenden Skepsis und dem innenpolitischen Druck in verschiedenen westlichen Partnerländern zu tun, aber auch mit den extrem hohen Erwartungen, die Selenski in der Ukraine geschürt hat. Er verkauft die Offensive als den entscheidenden Befreiungsschlag, der alle seit 2014 von Russland besetzten Gebiete zurückholen soll. Das ist angesichts der begrenzten Möglichkeiten politisch wie militärisch riskant und erlaubt keine Relativierung oder Etappierung.
Leichte ukrainische Erfolge gelten als unwahrscheinlich
Experten halten leichte Erfolge jedoch für unwahrscheinlich, da die Russen für die Vorbereitung viel Zeit hatten. Zudem bleiben sie den Ukrainern an Mannstärke und Material überlegen, besonders bei Panzern und der Luftwaffe. Höhere Motivation und eine bessere Taktik gleichen diese Defizite höchstens teilweise aus. Die anhaltende Teilmobilisierung bedeutet zudem, dass eine russische Gegenoffensive in absehbarer Zukunft nicht ausgeschlossen ist. Auch dies muss Kiew im Hinterkopf behalten.
Ob die Ukrainer die Stärke aufbringen, all ihre Ziele zu erreichen, hinterfragen auch westliche Analysten, die dem Land freundlich gesinnt sind. Zwei amerikanische Berater der Armee in Kiew äußerten sich jüngst skeptisch, ob die rasche westliche Ausbildung die tiefsitzenden sowjetischen Traditionen in der Militärführung beseitigt hat. Zu Letzteren gehören die mangelnde Kooperation verschiedener Truppengattungen und strenge Hierarchien, die rasche Entscheidungen an der Front behindern.
Die Offensive zwingt die Ukrainer nun dazu, unter großem Druck äußerst komplexe Operationen durchzuführen, mit denen sie kaum Erfahrung haben. Ein Durchmarsch ist eher unwahrscheinlich: So weist der finnische Osint-Spezialist Emil Kastehelmi darauf hin, dass die russischen Hauptlinien trotz der ukrainischen Erfolge vom Wochenende mehr als ein Dutzend Kilometer von der Front entfernt liegen.
Gleichzeitig bleibt bis jetzt der Großteil der neu trainierten und ausgebildeten Brigaden in Reserve. „Der Hauptgang kommt erst noch“, schreibt deshalb ein etwas optimistischerer Beobachter.
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