Washington Die ukrainische Gegenoffensive zeigt erste Anzeichen von Erfolg. Doch die Nato dämpft die Erwartungen an einen Durchbruch bei der Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass diese Offensive blutig und schwierig sein wird“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Besuch in Washington am Dienstag. Die Zukunft der westlichen Unterstützung für die Ukraine dürfte auch auf dem Nato-Gipfel Anfang Juli im Mittelpunkt stehen.
Je länger der Krieg anhält, desto lauter werden Rufe nach einer diplomatischen Lösung – zumindest in den USA, dem größten Geldgeber der Militärhilfen. Charles Kupchan, früherer Europadirektor im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses unter dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, ist sich sicher: Spätestens Ende des Jahres werde der Westen seine Strategie ändern und einen Waffenstillstand stärker einfordern müssen.
„Jeder will der Gegenoffensive eine Chance geben. Aber in den kommenden Monaten wird mehr und mehr die Haltung in den Vordergrund rücken: Das ist kein Krieg, der Jahre andauern sollte. Wir müssen einen Weg finden, das Töten zu beenden“, sagt Kupchan, der heute Sicherheitsexperte bei der Denkfabrik Council on Foreign Relations ist.
Wie könnte also eine Friedenslösung aussehen, inwiefern könnte Deutschland ein historisches Vorbild sein? Und wie lange sind die US-Hilfen für die Ukraine noch sicher?
Lesen Sie hier das vollständige Interview mit Charles Kupchan:
Der Krieg in der Ukraine dauert nun fast 16 Monate. Ist der Westen mit seiner Strategie der Verteidigung gescheitert?
Bislang vollbringt die Ukraine mit der Unterstützung des Westens eine unglaubliche Leistung. Wahrscheinlich wird sie in der laufenden Gegenoffensive Teile ihrer Gebiete zurückerobern. Aber ich glaube nicht, dass die Ukraine ihre territoriale Integrität auf dem Schlachtfeld vollständig wiederherstellen kann, sondern am Verhandlungstisch.
Wenn die Kampfsaison zu Ende geht, wird es eine neue Pattsituation geben. Spätestens dann muss der Westen zu einer diplomatischen Strategie übergehen, die auf einen Waffenstillstand abzielt.
Die Ukraine leidet unter den Kämpfen gegen die russischen Besatzer, will aber ihre territoriale Souveränität behaupten.
Wie kann eine Friedenslösung aussehen?
Das allererste Ziel muss sein, den Krieg zu beenden und das Töten zu stoppen. Wir brauchen eine stabile Kontaktlinie, hinter die sich die Truppen zurückziehen, und idealerweise den Einsatz einer internationalen Friedens- und Überwachungstruppe. Zentral wäre dann der Beginn von Gesprächen über eine neue Kontaktlinie, was mit den von Russland besetzten Teilen passieren soll, auch mit der Krim oder dem Donbass. Diese Gespräche würden wahrscheinlich sehr lange dauern.
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Das klingt so, als ob die Ukraine zumindest anfänglich auf Gebiet verzichten müsste.
Ich empfehle nicht, zu akzeptieren, dass Russland die Kontrolle über einen Teil des Territoriums behalten darf. Aber ich sehe die Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität eher als langfristiges Ziel. Wahrscheinlich ist sie nicht durchsetzbar, solange Wladimir Putin in Russland an der Macht ist. Aber ich halte es für denkbar, dass dieses Ziel in der Zukunft realistisch ist.
Es gibt hier historische Analogien, auch zu Deutschland, als die Hälfte des Landes Teil des Westens wurde, was damals keine leichte Entscheidung war. Und jetzt ist Deutschland wiedervereinigt. Oder: Die Vereinigten Staaten haben Estland, Lettland und Litauen nie als Teil der Sowjetunion anerkannt. Jetzt sind sie unabhängige Länder in der Nato.
Was wird die größte Herausforderung von möglichen Friedensverhandlungen?
Der Westen wird es schwer haben, Moskau und besonders Kiew erstmal vom Weg der Diplomatie zu überzeugen. Putin scheint zu glauben, dass er diesen Krieg einfach aussitzen kann. Wolodimir Selenski strebt die volle territoriale Souveränität seines Landes und den kompletten Abzug der russischen Streitkräfte an und wird dabei von 90 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Die Gespräche mit den Ukrainern könnten deshalb am schwierigsten werden.
Charles Kupchan war der Europadirektor im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses unter dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama.
(Foto: Council on Foreign Relations)
Denn der Westen will die Ukrainer nicht unter Druck setzen, dass sie irgendetwas von ihrem Territorium aufgeben müssen. Man will nicht den Eindruck erwecken, dass man Russland für seine Aggression auch noch belohnt.
Warum wäre es falsch, so weiterzumachen wie bisher?
Bei dem Versuch, die Ukraine zu retten, könnte sie zerstört werden. Denn je länger dieser Krieg anhält, desto mehr fügt er dem Land enormen Schaden zu, die Bevölkerung ist um ein Drittel geschrumpft. Er verursacht globale Störungen, Energie- und Nahrungsmittelknappheit und Unruhen in Teilen der Dritten Welt. Er polarisiert das internationale System, indem er die USA und ihre Verbündeten gegen Russland und China aufbringt, während sich der Rest der Welt weigert, Partei zu ergreifen.
Außerdem könnte dieser Krieg jederzeit eskalieren. Wir haben einige ziemlich beängstigende Momente erlebt: Raketen fielen auf polnisches Gebiet, russische Kampfjets schossen eine US-Drohne über dem Schwarzen Meer ab, Drohnen explodierten über dem Kreml oder trafen Wohngebiete in Moskau. Es ist jetzt an der Zeit, einen Plan B vorzubereiten, der diesen Krieg eher früher als später beendet.
Wie lange sind die militärischen Hilfen der USA garantiert?
Wir können nicht davon ausgehen, dass die Unterstützung des Westens auf dem derzeitigen Niveau anhält. In den USA verändert sich die öffentliche Meinung allmählich. Und bei der Bereitstellung von Munition, Luftabwehr oder Panzern stoßen wir an Grenzen, obwohl wir auf höchstem Niveau produzieren.
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Wir müssen uns darauf einstellen, dass der gegenwärtige Rückhalt mit der Zeit abnimmt. Entweder aufgrund politischer Umstände, die es für US-Präsident Joe Biden schwieriger machen, seine Vorstellungen durchzusetzen. Oder weil wir mit dem Bedarf an Material einfach nicht mithalten können.
Die Mittel aus den USA reichen wahrscheinlich bis zum Spätsommer. Dann muss Biden von einem gespaltenen Kongress mehr Geld anfordern. Spätestens im Wahljahr 2024 wird Biden unter Druck geraten, stärker auf einen Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung zu drängen.
Zu Ihrer Zeit im Weißen Haus wurde gerade das Abkommen Minsk II verhandelt. Hätten Sie damals geglaubt, dass es jemals zu einem Einmarsch in die Ukraine kommt?
Ich habe Putin immer als strategisch und berechnend eingeschätzt, als Unruhestifter, der sich Kämpfe aussucht, die er gewinnen kann. Er nahm „kleine Bissen“: von der Krim, ein Stück vom Donbass, er platzierte Truppen in Syrien oder in Libyen.
Aber dass er versuchen würde, ein Land mit 40 Millionen Einwohnern zu übernehmen, hielt auch ich nicht für möglich. Es ist eine Katastrophe, und wirklich auch ein strategischer Rückschlag für Russland. Es wird Generationen dauern, bis sich das Land davon erholt hat.
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