Jun 22, 2023
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Ukraine-Krieg: Sehr wahrscheinlich hat Russland den Kachowka-Damm gesprengt

Written by Ivo Mijnssen

Wien Knapp zwei Wochen nach dem Bruch des Kachowka-Damms in der Südukraine sinkt der Wasserspiegel langsam. Zurück bleiben 37 überschwemmte Ortschaften und eine verseuchte Landschaft. Die Gesundheitsbehörden in Kiew maßen bei einigen Gift- und Schadstoffen eine Konzentration, die 28.000 Mal über den erlaubten Grenzwerten lag.

Auf dem ukrainisch kontrollierten Territorium am rechten Ufer des Dnipro wurden bisher 17 Tote geborgen, auf russisch besetztem Boden deren 35. Ihre Zahl dürfte laut Angaben von Helfern und Anwohnern noch steigen, da viele Menschen von den Fluten überrascht und eingeschlossen wurden. Die anhaltenden Kämpfe in der Region und vor allem der russische Artilleriebeschuss machen die Versorgung und Evakuierung der Betroffenen lebensgefährlich.

Der Krieg erschwert auch die Beantwortung der drängendsten Frage: Wie kam es zu dem katastrophalen Dammbruch? Kiew und Moskau beschuldigen sich gegenseitig, das Bauwerk zum Einsturz gebracht zu haben. Daneben steht auch ein Unfall als Möglichkeit im Raum – ein Unfall allerdings, für den die Russen die Verantwortung trügen, da er die Folge einer fahrlässigen Vernachlässigung kritischer Infrastruktur in dem besetzten Gebiet wäre.

Zwar hatte ukrainischer Raketenbeschuss im August 2022 die Straße beim Damm beschädigt, aber nicht diesen selbst, wie Satellitenbilder zeigen. Als die Russen im November vom rechten Ufer abzogen, sprengten sie einen Teil des Übergangs und beschädigten zwei Schleusen. Ab diesem Zeitpunkt wurden die Kräne nicht mehr bewegt, die den Wasserdurchfluss regulieren. Der Pegelstand sank auf ein Rekordtief. Im Mai drückte ihn dann das Schmelzwasser auf ein Rekordhoch.

Der dadurch entstandene Druck des Wassers auf den beschädigten Damm, so die Unfallthese, könnte diesen am 6. Juni zum Bersten gebracht haben.

Der Kachowka-Damm Ende Mai

Gut sichtbar sind die durch den hohen Wasserdruck gebildeten Strudel.

(Foto: via REUTERS)

Der Journalist und Osint-Spezialist Ryan McBeth schließt aufgrund von Satellitenbildern und Gesprächen mit Ingenieuren, dass die beschädigten und geöffneten Schleusen über Monate Strudel im Fluss erzeugten, die das Fundament des Baus unterspülten. Gleichzeitig habe der hohe Pegelstand den Druck auf den oberen Teil des Damms ständig erhöht, was ihn schließlich zum Einsturz gebracht habe.

Für die Unfalltheorie spricht auch, dass es nur schwache Hinweise auf eine Explosion gibt. Medien haben zwar aus Chats von einzelnen Anwohnern zitiert, in denen diese eine solche erwähnten. Da sie auf russisch besetztem Gebiet leben, lassen sich die Angaben nicht verifizieren. Ähnliches gilt für anonyme Aussagen aus amerikanischen Sicherheitskreisen, wonach ein Spionagesatellit Wärmestrahlung registrierte, die auf eine Explosion hinweise.

Bewusste Sprengung?

Das stärkste Indiz für die Sprengung sind seismische Signale, die Messstationen in Rumänien und der Ukraine gemessen haben. Diese deuten laut norwegischen Experten auf eine Explosion kurz vor 3 Uhr morgens hin. Dies würde sich mit Angaben aus Kiew decken. Allerdings sind sich Experten nicht einig darüber, ob das mutmaßlich begrenzte Ausmaß der Explosion ausreichte, um den Damm zum Einsturz zu bringen.

Am Freitag veröffentlichte die „New York Times“ eine Recherche, welche die bisher plausibelsten Hinweise auf eine Explosion liefert. Gestützt auf Baupläne und Gespräche mit Experten hat die Zeitung eine „Achillesferse tief im Inneren des Damms“ identifiziert: einen schmalen Durchgang innerhalb des massiven Betonfundaments, das den Damm im Flussbett zwischen den beiden Ufern verankerte.

Zugänglich war diese Galerie vom Maschinenraum aus, den die Russen kontrollierten. Hier soll der Sprengsatz befestigt worden sein. Dies könnte erklären, weshalb die Detonation von aussen kaum bemerkt wurde. Drohnenbilder zeigen, dass der Damm zunächst in der Nähe des Maschinenraums brach. Trotz gesunkenem Wasserspiegel ist das Betonfundament im Mittelteil auf Satellitenbildern bis heute nicht zu sehen, was laut der Zeitung darauf hinweist, dass es zerstört wurde.

Das mysteriöse Auto auf dem Damm (Ausschnitt aus einem Drohnenvideo vom 28. Mai)

Im Inneren ist mutmaßlich Sprengstoff zu sehen.

(Foto: AP)

Am Montag veröffentlichten die Ukrainer zudem ein Drohnenbild vom 28. Mai 2023, auf dem ein Auto ohne Dach zu sehen ist. Es steht auf dem russisch kontrollierten Teil des Kachowka-Damms, in seinem Inneren sind Fässer zu sehen. An eines ist laut Associated Press eine Landmine angeheftet.

Ukrainische Militärvertreter erwägen die Möglichkeit, dass das Auto die Explosion verstärkte. Allerdings konnte die NZZ auf Satellitenbildern nachweisen, dass der Wagen auch am Tag nach der Explosion noch an der gleichen Stelle stand. Das Bild liefert deshalb bloß Hinweise darauf, dass die Russen den Damm verminten.

Das fehlende Motiv

Auch wenn nur eine unabhängige Untersuchung Beweise liefern könnte, zeigen die neuen Hinweise in Richtung Moskau. Dass ein ukrainischer Beschuss von aussen gereicht habe, um den Damm zum Einsturz zu bringen, glaubt außer einigen Propagandisten niemand. Und dass es Kiew gelungen wäre, ein Sabotageteam einzuschleusen, wirkt sehr unwahrscheinlich. Russland hatte leichteren Zugang und nachweislich Soldaten vor Ort stationiert.

Schleierhaft bleibt aber das Motiv: Ukrainische und westliche Experten nennen Terrorismus, eine Taktik der verbrannten Erde oder die Verhinderung einer möglichen ukrainischen Gegenoffensive am Unterlauf des Dnipro.
Dass Russland im Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht vor Terror zurückschreckt, ist zwar erwiesen. Doch die bewusste Sprengung des Damms setzte Zynismus und Irrationalität auf einer ganz neuen Stufe voraus. Sie ergäbe weder wirtschaftlich noch politisch oder militärstrategisch einen Sinn.

Russlands unkoordinierte Reaktion auf allen Ebenen zeigt dabei, dass weder Armee noch Besatzungsbehörden auf die Überschwemmung vorbereitet waren. Die zivilen Vertreter redeten das Desaster zunächst klein und führten dann chaotische Evakuierungen durch.

Bis heute bleiben Nichtregierungsorganisationen aus den betroffenen Orten ausgesperrt, und auch die Uno beschwert sich inzwischen öffentlich über die Weigerung der Russen, internationale Hilfe in die Gebiete zu lassen. Als Blockierer agiert primär das Militär.

Allerdings wirkt auch die Armee überfordert. Der Generalstab in Kiew und das Institute for the Study of War dokumentieren, wie unvermittelt die Überflutungen die Russen getroffen haben. Über Monate vorbereitete Verteidigungspositionen, Minenfelder und Artilleriestellungen wurden plötzlich weggeschwemmt.

Manche Soldaten mussten gar von ukrainischen Spezialeinheiten vor dem Ertrinken gerettet werden. Inzwischen melden Quellen aus dem ukrainischen Widerstand auch Fälle von Cholera innerhalb der russischen Armee, die vom Konsum verunreinigten Wassers stammen.

Die schwer absehbaren Folgen

Dazu kommt ein weiteres Risiko für die Truppen Moskaus: Das abfließende Wasser im Kachowka-Stausee oberhalb des Damms führt dazu, dass der kilometerbreite See zu einem viel schmaleren Fluss wird, sobald die Sommersonne das Wasser darum herum trocknet.

Bereits spekulieren Militärexperten darüber, ob dadurch die linke Flanke der russischen Südfront geöffnet wird – eine Flanke, an der die Besatzer aufgrund des unüberwindbar scheinenden natürlichen Hindernisses bisher keine starken Verteidigungsstellungen errichteten. Wie gut das noch über längere Zeit feuchte Gebiet dereinst passierbar ist und ob die Ukrainer dafür genug Fahrzeuge haben, lässt sich momentan noch nicht sagen. Klar scheint jedoch, dass die Russen, sollten sie wirklich hinter der Explosion stecken, ein kolossales Eigentor geschossen hätten.

Mitarbeit: Forrest Rogers

Mehr: Bauen gegen das Kriegstrauma in Irpin – „Das hilft mir, all das hier zu überleben“



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Damm · International · Katastrophe · Konflikt · Krieg · Russland · Ukraine
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