Jun 24, 2023
37 Views
Comments Off on Russland: Nach Wagner-Rückzug: Experten sprechen von „großer Niederlage” für Putin
0 0

Russland: Nach Wagner-Rückzug: Experten sprechen von „großer Niederlage” für Putin

Written by Mareike Müller

Riga Nur noch knapp 200 Kilometer sind die Truppen des privaten russischen Militärunternehmens Wagner am Samstagabend von Russlands Hauptstadt Moskau entfernt, als die plötzliche Wende kommt: Der Chef der Wagner-Truppe, Jewgeni Prigoschin, kündigt überraschend den Rückzug der Söldner an und beorderte diese zurück in ihre Stützpunkte. Er wolle so Blutvergießen vermeiden, begründet Prigoschin die Entscheidung.

Damit scheint der Putschversuch des Wagner-Chefs abgewendet zu sein. Die Söldnertruppe hatte in der Nacht auf Samstag zunächst die russische Stadt Rostow am Don unweit der Grenze zur Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht, wo sich das Hauptquartier der russischen Armee für den Süden des Landes befindet. Von dort aus koordiniert Russlands Armee maßgeblich den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dann waren die Söldner über Woronesch weiter bis nach Lipezk vorgerückt. Moskau hatte in der Zwischenzeit die Sicherheitsvorkehrungen massiv erhöht.

Zuvor hatte Prigoschin dem russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu am Freitag vorgeworfen, Raketen auf Wagner-Söldner abgefeuert zu haben. Vorausgegangen war der Entwicklung ein monatelanger Machtkampf zwischen der russischen Armee unter Schoigus und der privaten Söldnerarmee unter Prigoschins Leitung. 

Im Laufe des Samstags weitete sich dieser Machtkampf zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen Schoigu und Russlands Präsidenten Wladimir Putin selbst aus. Putin hatte seinen früheren Vertrauten Prigoschin am Morgen als „Verräter“ bezeichnet und die eigenen Streitkräfte angeordnet, die Aufständischen zu bestrafen. Die Behörden in Moskau und Umgebung riefen den Anti-Terror-Notstand aus.

>> Lesen Sie dazu: Prigoschins Miliz begehrt gegen russische Armee auf

Am Samstagabend sagte Prigoschin dann in einer Sprachnachricht via Telegram: „Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück“. Bislang sei „nicht ein Tropfen Blut unserer Kämpfer“ vergossen worden, sagte Prigoschin. „Jetzt ist der Moment gekommen, wo Blut vergossen werden könnte.“ Deshalb sei es Zeit, die Kolonnen umdrehen zu lassen.

Unmittelbar zuvor hatte der Pressedienst des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko mitgeteilt, dass dieser Prigoschin zur Aufgabe bewogen habe. „Prigoschin hat den Vorschlag von Belarus’ Präsident Alexander Lukaschenko zum Anhalten seiner Bewaffneten aus der Wagner-Truppe und weiteren Schritten zur Deeskalation angenommen“, hieß es in einer Pressemitteilung des Präsidialamts der staatlichen Nachrichtenagentur Belta. 

Lukaschenko habe sich in Absprache mit Putin als Vermittler eingeschaltet, hieß es. Später am Samstagabend sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow zudem, das zuvor eröffnete Strafverfahren gegen Prigoschin werde eingestellt. Prigoschin selbst werde nach Belarus gehen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Samstag der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge.

Jewgeni Prigoschin

Der Wagner-Chef werde nach Belarus gehen, das Strafverfahren gegen ihn wird eingestellt. 

(Foto: dpa)

Im Laufe des Samstags hatte Putin verschiedene verbündete Staatschefs angerufen, dabei dürfte es auch um Unterstützung für die russische Staatsführung in der angespannten Situation gegangen sein. Neben Gesprächen mit Lukaschenko sprach Putin auch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdognan, wie das türkische Präsidialamt bestätigte. Erdogan habe Putin aufgefordert, mit Vernunft zu handeln, erklärt das türkische Präsidialamt. Er habe Putin mitgeteilt, dass die Türkei bereit sei, ihren Teil zu einer friedlichen Lösung der Situation beizutragen. Informationen der russischen Seite zufolge habe Erdogan „volle Unterstützung“ für die von der russischen Führung unternommenen Schritte gezeigt.

Putin warb offenbar in Kasachstan um Unterstützung – vergeblich

Auch in Zentralasien warb Putin offenbar um Unterstützung. Nach Informationen der russischen Nachrichtenagentur Tass sprach er sowohl mit dem usbekischen Präsidenten Schawkat Mirsijojew als auch mit Kasachstans Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew. Kasachstan ist das größte und wirtschaftlich und militärisch bedeutendste Land in Zentralasien. Es grenzt direkt an Russland.

Tokajew sagte Putin allerdings, die Situation sei eine innenpolitische Angelegenheit Russlands, wie die Website des kasachischen Präsidenten meldete. Die Aussage kommt einer indirekten Unterstützungsabsage der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) gleich.

Lesen Sie zu diesem Thema auch:

Das Militärbündnis, deren Mitgliedsstaaten in bestimmten Fällen gegenseitige militärische Unterstützung gewährleisten, wurde 2002 gegründet, die Organisation wird von Russland angeführt. Mitglieder sind neben Russland Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan.

Im Januar 2022 wurden unter anderem russische OVKS-Truppen in Kasachstan eingesetzt, als Massenproteste gegen Präsident Tokajew das Land in Unruhe versetzten und Tokajew ein entsprechendes Hilfe-Ersuchen stellte. Neben Russland entsandten damals Armenien, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan Truppen. Kasachstans Regierung erteile einen Schießbefehl, offiziellen Angaben zufolge wurden über 160 Menschen getötet und Tausende verletzt.

Experten sind aber der Meinung, dass eine Intervention der OVKS-Truppen ohnehin unwahrscheinlich gewesen wäre, was Putins Isolation während der Notlage unterstreicht. Die Zentralasien-Forscherin Nargis Kassenova vom Harvard Davis Center schrieb am Samstag, sie gehe nicht davon aus, dass Russland OVKS-Hilfe offiziell anfordern werde, aus symbolischen und praktischen Gründen. Russland sei ohnehin schon bloßgestellt, außerdem wäre es unmöglich, die Mitgliedsstaaten zu überzeugen.

„Die größte Krise von Putins Präsidentschaft“

Putin geht entsprechend politisch stark geschwächt aus der Situation hervor. Der Russland-Analyst Nigel Gould-Davies von der Londoner Denkfabrik International Institute for Strategic Studies sagte am Samstag, der interne Konflikt ermutige die ukrainischen Truppen und demoralisiere die russischen. Prigoschin habe mit der Meuterei direkt und öffentlich Putins Rechtfertigung für den Angriffskrieg gegen die Ukraine untergraben und die reguläre Armee lächerlich gemacht, sagte Gould-Davies.

Der Kremlchef sei schwer beschädigt worden, der Experte nannte die Situation „die größte Krise von Putins Präsidentschaft.“ Der deutsche Sicherheitsexperte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr schrieb am Samstagabend von einer „Demütigung“ für Putin, „nach innen wie nach außen“. Die russische Politikanalystin Tatjana Stanowaja, die mittlerweile in Europa lebt und forscht, schrieb von einer „großen Niederlage“ für Putin.

Auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski äußerte sich am Abend zu den Entwicklungen in Russland. Erstmals seit langer Zeit verfasste er seine allabendliche Videobotschaft auf Russisch anstatt auf Ukrainisch – und rief darin zum Sturz Putins auf. Je länger dieser Mensch im Kreml ist, desto größer wird die Katastrophe“, sagte Selenski. Je länger die russischen Truppen in der Ukraine seien, desto mehr Verwüstung würden sie später nach Russland bringen. Der Sieg der Ukraine nach dem russischen Einmarsch vor 16 Monaten sei dabei „gewiss“.

Mehr: Prigoschins Miliz begehrt gegen russische Armee auf



<< Den vollständigen Artikel: Russland: Nach Wagner-Rückzug: Experten sprechen von „großer Niederlage” für Putin >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.

Article Tags:
International
Article Categories:
Politik

Comments are closed.