Moskau, Kiew Mitten in der Anfangsphase der ukrainischen Gegenoffensive ist ein Machtkampf zwischen russischer Militärführung und der Söldnertruppe Wagner eskaliert. Nach schweren Anschuldigungen des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin gegen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und einer Drohung, in der russischen Militärführung aufzuräumen, leiteten russische Strafverfolgungsbehörden am Freitagabend Ermittlungen gegen Prigoschin wegen versuchten bewaffneten Aufstands ein. In der Ukraine gab es gleichzeitig im ganzen Land Luftalarm, mehrere Städte meldeten Beschuss und Einschläge.
Dem 61-jährigen Prigoschin drohen laut Generalstaatsanwaltschaft zwischen 12 und 20 Jahren Freiheitsstrafe. Prigoschin sagte in einem auf Telegram veröffentlichten Video, er kontrolliere mit seiner Söldnertruppe Wagner alle Militäreinrichtungen der Stadt und werde auf Moskau marschieren, wenn nicht Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow zu ihm kämen. Dies behindere nicht Russlands „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine, sagte Prigoschin. Zuvor hatte er schon betont, seine Aktion sei kein Militärputsch.
Der Gouverneur der russischen Region Rostow, die an die Ukraine grenzt, rief die Bevölkerung dazu auf, Ruhe zu bewahren und nach Möglichkeit die Häuser nicht zu verlassen. Auch in der Hauptstadt Moskau waren die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden.
Der russische Präsident Wladimir Putin spricht in einer Fernsehansprache von Verrat und einem „Stich in den Rücken“ mit Blick auf das Vorgehen des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin. Wer an der Meuterei teilgenommen habe, werde bestraft, jeder, der die Waffen gegen die Armee erhoben habe, sei ein Verräter. „Wir werden siegen und stärker werden“, sagte Putin. Die Lage in Rostow am Don sei schwierig.
In der Ukraine waren die Berichte über den internen Machtkampf mit Genugtuung und Spott aufgenommen worden. Die ukrainische Armee schrieb auf Twitter: „Wir schauen zu.“
Selenski lobt westliche Hilfe und schimpft auf Korruption
In seiner allabendlichen Videoansprache am Freitag, die noch vor den Ereignissen in Russland veröffentlicht wurde, bezeichnete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski die Londoner Konferenz für den Wiederaufbau seines Landes als Erfolg. Es gebe langfristige Hilfsprogramme von westlichen Staaten und die Ukraine werde zunehmend als künftiges EU-Land wahrgenommen, lobte er.
Zudem sei es auch gelungen, neben staatlichen Akteuren Konzerne zu beteiligen. „Etwa 500 globale, starke Unternehmen sind an Investitionen in der Ukraine interessiert“, sagte Selenski.
Luftalarm in der gesamten Ukraine – Explosionen in mehreren Städten
In der Ukraine wurde in der Nacht zum Samstag einmal mehr im ganzen Land Luftalarm ausgelöst. Aus mehreren Städten gab es in der Folge Berichte über Explosionen. Im östlichen Charkiw habe es mindestens drei Einschläge gegeben, unter anderem in eine Gasleitung, woraufhin ein Feuer ausgebrochen sei, schrieb Bürgermeister Ihor Terechow auf Telegram. Aus der Hauptstadt Kiew hieß es, Raketenteile seien auf einen Parkplatz in einem zentralen Bezirk gestürzt. Die 16. Etage eines Wohngebäudes neben dem Parkplatz habe zudem Feuer gefangen, schrieb Bürgermeister Vitali Klitschko auf Telegram. Mindestens zwei Menschen seien verletzt worden.
Korrespondenten vom nationalen Rundfunk Suspilne Media berichteten zudem, dass Explosionen auch in den Städten Dnipro und Krementschuk zu hören gewesen seien. Zuletzt hatten sich die Raketen- und Drohnenangriffe vor allem auf die Hauptstadt Kiew gemehrt.
Selenski entlässt Militärbeamten wegen Korruptionsverdacht
Selenski forderte die Entlassung eines Militärbeamten, der sich zu Kriegszeiten Immobilien in Spanien gekauft haben soll. Einer Mitteilung des Präsidialamts vom Freitag zufolge wurde Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj die „unverzügliche“ Anweisung gegeben, den Chef des Kreiswehrersatzamtes Odessa zu entlassen, „über den das ganze Land redet“. Am Donnerstag hatte die Internetzeitung Ukrajinska Prawda berichtet, dass Familienmitglieder des Militärbeamten Immobilien für über drei Millionen Euro an der spanischen Küste und Luxusautos gekauft hätten.
Seit knapp 16 Monaten wehrt die Ukraine eine russische Invasion ab. Seitdem gelten eine Generalmobilmachung und eine Ausreisesperre für Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren. Viele kaufen sich jedoch bei Musterungsärzten und den Kreiswehrersatzämtern frei oder fliehen gegen Schmiergeldzahlung aus dem Land. Berichten des Geheimdienstes SBU zufolge sollen dafür jeweils mehrere Tausend Euro gezahlt werden. Gemäß der Nichtregierungsorganisation Transparency International gehört die Ukraine zu den korruptesten Länder Europas.
Bericht: Russland errichtet provisorische Brücke zur besetzten Krim
Nach der Beschädigung der wichtigen Tschonhar-Brücke vom ukrainischen Festland zur Halbinsel Krim durch Kiews Militär soll Russland dort laut Medienberichten einen Ponton-Übergang errichtet haben. Ein solche Schwimmbrücke sei auf den vom US-Unternehmen Planet Labs zur Verfügung gestellten Satellitenfotos erkennbar, berichtete ein ukrainisches Investigativteam von Radio Swoboda, dem ukrainischsprachigen Dienst des US-Auslandssenders Radio Liberty, am Freitag.
Die Brücke ist eine von drei Anfahrtsrouten von der russisch besetzten Halbinsel Krim ins nördlicher gelegene und ebenfalls zu Teilen okkupierte Gebiet Cherson. Sie gilt als Teil einer für die Russen wichtigen Nachschubroute, um die eigenen Truppen an der Front zu versorgen.
Was am Samstag wichtig wird
Am Samstag sind alle Augen auf Russland gerichtet, wo sich die Lage vor allem in der Stadt Rostow am Don angesichts der Drohungen Prigoschins zuspitzen könnte.
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