Berlin Die Bilder, die das russische Staatsfernsehen am Donnerstag verbreitete, waren höchst ungewöhnlich: Bei einem Besuch in Dagestan ließ sich Wladimir Putin aus nächster Nähe bejubeln, schüttelte Hände und küsste den einen oder die andere auf die Stirn.
Solche Aktionen hatte der russische Präsident lange nicht für nötig erachtet. Spätestens seit Beginn der Pandemie hielt er demonstrativ Abstand, selbst zu engen Vertrauten.
Putin scheint sich um seine Beliebtheit beim Volk Gedanken zu machen. Der Aufstand vom vergangenen Wochenende könnte das Vertrauen der Russen beschädigt haben, vermuten Experten. In Rostow am Don hatten junge Frauen mit den Wagner-Söldner posiert, Panzerrohre wurden mit Blumen geschmückt. Den Bewohnern schienen die Aufständischen willkommen zu sein.
Das unabhängige Exilmedium Meduza berichtet über Umfragedaten, die der Kreml am Donnerstag mit russischen Botschaftern und Regionalpolitikern geteilt haben soll. Demnach sei das Vertrauen in Wladimir Putin nach dem Aufstand um 9 bis 14 Prozentpunkte gesunken, je nach Region.
Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada konnte dagegen nur einen leichten Rückgang der Beliebtheit feststellen und sieht Putin mittlerweile sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen.
Nächstes Jahr wird gewählt
Sicher ist, dass etwas in Bewegung geraten ist. Alexey Yusupov, Leiter des Russlandprogramms der Friedrich-Ebert-Stiftung, ist überzeugt, dass Wladimir Putin nun nicht mehr derjenige sei, dem man bei den russischen Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr das Vertrauen für die Zukunft Russlands schenken werde – weder in der Elite noch in der Bevölkerung.
Am Wochenende habe man den Beginn eines Nachfolgekampfes um den Platz des starken Mannes in der Russischen Föderation gesehen. „Prigoschin hat aus Versehen die Politik nach Russland zurückgebracht“, sagte Yusupov dem Handelsblatt.
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Der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag in Russland lautet seit Jahrzehnten: Der Staat garantiert Stabilität und Sicherheit – im Gegenzug dazu mischen sich die Bürger nicht in die Politik ein.
„Ich denke, das Problem im heutigen Russland ist nicht, dass die Russen massenhaft diese bestialische Aggression gegen die Ukraine gutheißen würden. Das gibt es so nicht“, sagte der Moskauer Soziologe Grigori Judin schon kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs. „Das Problem liegt darin, dass die Menschen versuchen, so zu tun, als würde sie das alles nichts angehen, als könnten sie einfach ihr Privatleben weiterleben.“
Sogar eine Stärkung Putins scheint möglich
Aber wie ist zu erklären, dass die Wagner-Söldner von Jewgeni Prigoschin bei ihrem Aufstand umjubelt wurden? „Politisch und ideologisch scheint sich Russland derzeit in einer derartigen Sackgasse zu befinden, dass selbst friedens- und freiheitsliebende Menschen sich auf alles freuen, was sie aus dieser Sackgasse herausführen könnte“, schreibt Alexander Baunow, ehemaliger Chefredakteur von Carnegie.ru.
Dabei sei Prigoschin weder friedens- noch freiheitsliebend: Sein Mobilisierungsprogramm sei vielmehr noch härter als das von Putin. Die Blumenbilder, die eine Parallele zu den Bildern der Nelkenrevolution in Portugal von 1974 aufwiesen, wertet er darum als „lustig und schrecklich zugleich“. Baunow betont aber, dass es keine Massen waren, die in Rostow auf die Straße gingen, um die Aufständischen zu unterstützen.
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Laut Jens Siegert, ehemaliger Leiter des Russlandbüros der Heinrich-Böll-Stiftung und nach wie vor in Moskau, könnte Putin nach dem Tiefpunkt am Wochenende auch wieder stärker werden. „Vieles spricht dafür, dass es eher weiter runtergeht als wieder aufwärts für Putin“, schrieb Siegert auf Twitter. „Aber unmöglich ist das bei kluger Politik nicht. Frage ist also, ob Putin noch kluge Politik kann.“ Zwar seien Putins Probleme erheblich größer geworden – aber noch nicht irreparabel.
Das Exilmedium Meduza veröffentlichte auch einige Leserstimmen, die eine Verunsicherung über die Ereignisse vom Wochenende zeigen. Ein anonymer Leser aus Moskau schreibt, das schnelle Ende des Aufstands stehe für ihn in „keinerlei Zusammenhang mit der Art und Weise, wie schnell sie gen Moskau vorankamen (ohne Widerstand) und wie sie von der Bevölkerung in Rostow empfangen wurden“.
Es bleibe das Gefühl, „dass wir höchstens zehn Prozent der Situation kennen, was bei unserer Regierung leider ganz üblich ist“.
Nationalgarde soll besser ausgerüstet werden
Während in vielen Städten im Lauf des Wochenendes Rekrutierungsplakate der Wagner-Gruppe entfernt wurden, hissten Bürger in Wladiwostok, in Russlands Fernem Osten, ein Stoffbanner mit der Aufschrift „Wladiwostok für Wagner“.
Aus Rostow am Don verbreiteten sich Bilder in sozialen Medien, auf denen Anwohner zum Beispiel Wasser an Wagner-Söldner verteilen. Das unabhängige Online-Magazin 7×7, das aus Russlands Regionen berichtet, zitiert eine Rostowerin mit den Worten: „Das tun wir aus Herzensgüte. Ihre Gesichter wirken leidend, und bei uns leben gute Menschen.“
Solche Momente zeigen, wie schnell die Loyalität der Bevölkerung kippen kann. Um das zu verhindern, setzt Putin bislang vor allem auf Repressionen nach innen: Propaganda, Strafmaßnahmen und Zensur – all das hat in Russland seit Beginn des großflächigen Angriffskriegs weiter zugenommen.
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Seit dem 24. Februar 2022 wurden laut der Menschenrechtsorganisation OVD-Info mehr als 19.500 Menschen bei Antikriegsprotesten festgenommen, allein in den ersten neun Monaten des Angriffskriegs außerdem 117 Personen wegen „Fakes“ und 30 Personen wegen „Diskreditierung der Armee“ strafrechtlich verfolgt.
Nun soll die Nationalgarde verstärkt werden, die direkt dem Präsidenten unterstellt und für den Einsatz im Inland gedacht ist. Die knapp 340.000 Nationalgardisten werden mit schweren Waffen und Panzern ausgerüstet.
Die russische Zivilgesellschaft muss damit rechnen, dass das angeschlagene Regime alles tun wird, jedes noch so schwache Zeichen von Widerspruch im Keim zu ersticken.
Staatsmedien: Putin trifft auf euphorische Menschenmenge
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