Brüssel Das „Derisking“, der Risikoabbau in den Wirtschaftsbeziehungen zu China, ist eine Strategie auf die momentan viele Politiker setzen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nutzte den Begriff im März, als sie eine neue Chinapolitik skizzierte. Im April schlossen sich Bundeswirtschaftsministerin Annalena Baerbock und US-Sicherheitsberater Jake Sullivan der Formulierung an.
Doch die Urheberschaft für den Begriff, zumindest im politischen Raum, kann ausgerechnet Olaf Scholz für sich beanspruchen – der Bundeskanzler, der eigentlich darauf bedacht ist, Spannungen mit China zu vermeiden. Schon im vergangenen November, kurz nach seiner ersten China-Reise als Regierungschef, sagte Scholz, was im Verhältnis zur Volksrepublik zu tun sei: „Resilienz stärken, Diversifizieren in unseren Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, Derisking, um es so zu sagen.“
Seit diesem Freitag ist das Derisking offizielle Politik der EU. Auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel vereinbarten die Staats- und Regierungschefs, dass die „Europäische Union kritische Abhängigkeiten und Anfälligkeiten, auch in ihren Lieferketten, weiter verringern“ wolle und, „wo dies notwendig und angemessen ist“, anstrebe, „Risiken abzubauen und zu diversifizieren“.
Von den jüngsten Warnungen des chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang, die Handelsbeziehungen mit der Strategie des Deriskings zu politisieren und damit dem Freihandel zu schaden, ließen sich die Europäer nicht beeindrucken. Allerdings betonten sie, die EU habe nicht die Absicht, sich von China „abzukoppeln oder sich abzuschotten“.
Überschattet wurde der Gipfel von der Weigerung Ungarns und Polens, den zuletzt im Kreis der Innenminister gefunden Kompromiss zur Migration mitzutragen. Der jahrelange Streit um die europäischen Asylpolitik, so viel wurde auf dem EU-Gipfel klar, ist noch lange vorbei – und die Eskalationsgefahr real.
Unstimmigkeiten zwischen EU-Kommission und Staaten
Doch zumindest in der Chinapolitik konnte Scholz im Anschluss an das zweitägige Treffen einen „ganz großen Konsens“ vermelden. Es gehe darum, Sorge zu tragen, „dass wir keine strategischen Abhängigkeiten haben – Unternehmen nicht, die Volkswirtschaften nicht“, sagte Scholz.
Interessant ist, was Scholz aussparte: das Konzept der Wirtschaftssicherheit, das Kommissionschefin von der Leyen vergangene Woche präsentiert hatte. Auch in der Abschlusserklärung des Gipfels wird die Wirtschaftssicherheit nicht erwähnt.
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Das zeigt: Den Mitgliedsstaaten gehen die Vorstellungen der Kommission zu weit. Denn von der Leyens Konzept sieht staatliche Eingriffe in Unternehmensentscheidungen vor, um den Prozess des Risikoabbaus zu beschleunigen.
Davon wäre vor allem die deutsche Wirtschaft betroffen. Konzerne wie BASF, VW und Mercedes-Benz sind stark auf den chinesischen Markt fokussiert und auf die Gewinne angewiesen, die sie dort erwirtschaften. Die Sorge in Brüssel lautet, dass diese Abhängigkeit ganz Europa erpressbar macht und den Spielraum für Sanktionen einengt, sollte China Taiwan überfallen.
Nach den Vorstellungen der EU-Kommission soll der Risikoabbau daher politisch gelenkt werden. Sie plant die Exportvorschriften für Güter, die vom chinesischen Militär verwendet werden könnten, zu verschärfen. Die Kontrolle von chinesischen Investitionen in der EU soll verstärkt und erstmals auch eine staatliche Prüfung von europäischen Investitionen in China eingeführt werden.
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Scholz machte deutlich, dass er unter Derisking etwas anderes versteht. „Man muss wissen, dass das kein kurzfristiges Projekt ist“, sagte er, da es vor allem um Entscheidungen der Privatwirtschaft gehe. Scholz kritisierte zwar, dass im Zuge der Globalisierung „viele Unternehmen sehr große Risiken eingegangen sind, weil es gutging“. Sich auf einen Lieferanten zu konzentrieren und „alle Eier in einen Korb zu legen“ sei „immer riskant“.
Doch für den Kanzler ist es nicht Sache der Regierung, diese Abhängigkeiten zu reduzieren, sondern eine Aufgabe der Unternehmen, die diese auch schon angingen. „Die haben damit längst angefangen“, betonte Scholz, „das ist vorwiegend gar kein staatliches Handeln“. Die Regierung würde ja nicht verfügen, wo ein Unternehmen investieren solle und wo nicht.
Brüssel und Washington für staatliche Interventionen
Doch genau darum geht es in der Derisking-Debatte – zumindest aus Sicht der EU-Kommission und der US-Regierung. Outbound-Investment-Screening nennt sich ein neues politisches Instrument, das derzeit in Brüssel und Washington entwickelt wird. Es würde eine staatliche Vetomöglichkeit für bestimmte Investitionen westlicher Firmen in China schaffen. Und zwar für den Fall, dass mit einer solchen Investition Wissen über die Herstellung hochmoderner Mikroprozessoren, den Bau von Quantencomputern und die Nutzung Künstlicher Intelligenz abfließen würde.
So entpuppt sich der „ganz große Konsens“, den der Kanzler in der Chinapolitik ausmachte, bei näherer Betrachtung als kleinster gemeinsamer Nenner. Für Scholz ist der Abbau kritischer Abhängigkeiten vor allem eine Frage des Risikomanagements von Unternehmen.
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Die EU-Kommission und die US-Regierung verstehen den Begriff des Deriskings ganz anders: als Auftrag, Unternehmensentscheidungen notfalls zu korrigieren, wenn sich aus ihnen Risiken für die staatliche Sicherheit ergeben.
Zumindest in Amerika gibt es dafür auch Unterstützung aus der Wirtschaft. Der US-amerikanische Investmentbanker Peter Orszag sagte dem Handelsblatt vor ein paar Tagen: „Wenn es den USA nicht gelingt, Europa und speziell Deutschland davon zu überzeugen, die Abhängigkeit von China zu verringern, wird das Derisking nicht funktionieren.“
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