Berlin Der dringend erforderliche Neubau von Gaskraftwerken ist nach Überzeugung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) gefährdet. Damit Deutschland nicht zu überstürztem Handeln gezwungen werde, sei es erforderlich, ein „Gesamtkonzept für Versorgungssicherheit“ zu entwickeln, heißt es in dem noch unveröffentlichten BDEW-Grundsatzpapier „Ein neues Marktdesign für Europa und Deutschland“, das dem Handelsblatt vorliegt.
„Die Zeit droht davonzulaufen. Deshalb reicht es nicht aus, Reformen für ein Marktdesign post 2030 zu vereinbaren“, sagte BDEW-Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae dem Handelsblatt. „Die Reformen, die sich als notwendig erweisen, müssen so schnell wie möglich in Gesetze und administratives Handeln gegossen werden“, sagte Andreae. Das heutige Marktdesign sei „kein Garant dafür, dass die gesetzten Erneuerbare-Energien-Ausbauziele erreicht werden und die Versorgungssicherheit erhalten bleibt“. Es seien zusätzliche Instrumente erforderlich.
Die Branche schlägt damit eine neue Tonlage an, die Kritik an der Vorgehensweise des Bundeswirtschaftsministeriums ist deutlich. Das Haus von Minister Robert Habeck (Grüne) hatte im Februar den Diskussionsprozess „Plattform klimaneutrales Stromsystem“ (PKNS) gestartet.
Beteiligt sind verschiedene Interessenverbände aus den Bereichen Energiewirtschaft, Verbraucherschutz, Industrie und Zivilgesellschaft sowie Politiker und Wissenschaftler. Ziel ist es, ein Konzept für ein klimaneutrales Stromsystem nach 2030 zu entwickeln.
Parallel dazu arbeitet das Ministerium hinter verschlossenen Türen an einer Kraftwerksstrategie, die nach Angaben des Ministeriums „kurz- bis mittelfristig zu Investitionen in Neubauten und Modernisierungen von 25 Gigawatt steuerbaren Kapazitäten führen sollen“. Man führe Gespräche mit der EU-Kommission zu beihilferechtlichen Fragen und gehe davon aus, dass Bekanntmachungen der ersten Ausschreibungen bis Ende des Jahres erfolgten.
Schneller Neubau von Kraftwerken steht auf der Kippe
Erst kürzlich war publik geworden, dass es zwischen EU-Kommission und Bundeswirtschaftsministerium unterschiedliche Auffassungen über die Ausgestaltung der Anreize für den Neubau von Gaskraftwerken gibt.
Der BDEW mahnt dazu, die Kraftwerksstrategie mit dem PKNS-Diskussionsprozess zu verzahnen. „Die Kraftwerksstrategie und das hier verankerte Ausschreibungsdesign müssen in das zukünftige Marktdesign eingebettet werden, damit es nicht zu Investitionsattentismus kommt. Ansonsten wäre das Ziel einer Beschleunigung des Kraftwerkzubaus konterkariert“, warnte BDEW-Hauptgeschäftsführerin Andreae.
Zusätzliche Gaskraftwerke spielen eine Schlüsselrolle im Stromversorgungssystem der Zukunft. Sie sollen als „gesicherte Leistung“ immer dann zur Verfügung stehen, wenn Windräder und Photovoltaikanlagen nicht ausreichend Strom liefern. Sie sind somit die Back-up-Kapazitäten eines auf erneuerbaren Energien basierenden Stromsystems.
Anfangs sollen die Kraftwerke mit Erdgas betrieben werden, später mit klimaneutralem Wasserstoff. Da der Ausstieg aus der Kernkraftnutzung bereits vollzogen ist und der Kohleausstieg bis 2030 folgen soll, müssen bis dahin Gaskraftwerke mit einer Leistung von bis zu 25 Gigawatt zusätzlich am Netz sein. Das entspricht rund 50 großen Kraftwerksblöcken. Aus Sicht des BDEW ist der Wert von 25 GW allerdings zu knapp bemessen. Der Branchenverband hält Anlagen mit einer installierten Leistung von „bis zu 40 GW“ für erforderlich.
Weil die neuen Kraftwerke aber mit wachsendem Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung tendenziell immer seltener zum Einsatz kommen werden, um die Stromnachfrage zu decken, halten sich potenzielle Investoren zurück. Sie fürchten, dass sich ihre Investitionen nicht lohnen. Darum soll der Staat nachhelfen.
Die EU-Kommission pocht in diesem Zusammenhang auf eine grundlegende Reform des Strommarktdesigns. Außerdem sollen die Ausschreibungen nach Auffassung der Kommission offen sein für alle in Betracht kommenden Technologien, und zwar grenzüberschreitend.
BDEW spricht sich für Kapazitätsmarkt aus
Der BDEW begrüßt die von der EU-Kommission geforderte Technologieoffenheit und fordert, noch in dieser Legislaturperiode einen „zentralen Kapazitätsmarkt“ zu entwickeln. Mit Kapazitätsmärkten wird das Bereithalten von Stromerzeugungskapazitäten honoriert.
BDEW-Chefin Andreae sagte, Ziel müsse es sein, „dass ausgehend von einem festgelegten Versorgungssicherheitsniveau alle technischen Optionen für eine gesicherte Leistung auf marktlicher Basis vergütet werden“. Dazu zählt sie nicht nur Gaskraftwerke, sondern auch Wind- und Photovoltaik-Anlagen, aber auch Speicher und „lastseitige Flexibilitäten“.
Mit lastseitigen Flexibilitäten sind die Potenziale der Industrie gemeint, in bestimmten Situationen ihre Stromabnahme zu reduzieren, um Verbrauchsspitzen zu kappen. Das entlastet das Gesamtsystem – und war bis Ende Juni vergangenen Jahres in der Verordnung Abschaltbare Lasten (AbLaV) geregelt, die jedoch nur befristet Geltung hatte.
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Dass es im Moment keine Regulierung zur Abschaltung von Lasten gibt, wird insbesondere von den großen Stromverbrauchern aus der Industrie als misslich empfunden: „Der Ausbau der erneuerbaren Energien auf der einen Seite braucht Flexibilität der Abnehmer auf der anderen Seite. Flexible Verbraucher wie unsere energieintensiven Unternehmen sind ein wichtiger Ermöglicher der Energiewende“, sagte Franziska Erdle, Hauptgeschäftsführerin Wirtschaftsvereinigung Metalle, dem Handelsblatt.
Energieintensive Unternehmen sorgten für Stabilität im Netz, wenn der Wind nicht ausreichend wehe und die Sonne nicht scheine. „Um das Potenzial dieser Flexibilität zu heben, braucht es zügig ein geeignetes Instrument, denn derzeit befinden wir uns in einer Regelungslücke“, sagte Erdle.
Die betroffenen Unternehmen pochen auf eine Lösung. „Wenn wir kein geeignetes Instrument auf dem Markt haben, um industrielle Anlagen abzuschalten, laufen wir Gefahr, bei Spannungseinbrüchen unvorhergesehene und unkontrollierte Notabschaltungen zu erleiden. Es gibt keine gesetzlichen Haftungsregelungen für die Schäden, die uns dadurch entstehen könnten“, warnt Svetlina Ilieva-König vom Aluminiumhersteller Trimet, einem der größten Stromverbraucher Deutschlands.
Derzeit läuft bei der Bundesnetzagentur ein Konsultationsverfahren zu dem Thema, am Mittwoch endet die Frist zur Einreichung von Stellungnahmen. Wann es eine Nachfolgeregelung für die AbLaV geben wird, ist aber noch unklar.
Ausbau der Erneuerbaren durch langfristige Abnahmeverträge vorantreiben
Eng verknüpft mit der Frage des künftigen Marktdesigns ist aus Sicht des BDEW die künftige Förderung des Ausbaus erneuerbarer Energien. Andreae plädiert dafür, Power Purchase Agreements (PPA) mehr Bedeutung zu geben. Dabei handelt es sich um meist langfristige Stromlieferverträge, die etwa der Betreiber eines Windparks direkt mit einem Abnehmer aus der Industrie abschließt.
Staatlich garantierte Einspeisevergütungen, wie sie im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) festgeschrieben sind, spielen bei diesen Konstruktionen keine Rolle mehr. PPAs könnten nach Überzeugung Andreaes bis 2030 einen bedeutenden Teil des Ausbaus erneuerbarer Energien abdecken. Es sei allerdings „nicht realistisch, dass sich allein über PPAs die Ausbauziele für erneuerbare Energien erreichen lassen“.
Unter Kostenminimierungsgesichtspunkten sei auch nach 2030 eine Dualität zwischen ungeförderten PPAs und durch Ausschreibungen abgesichertem Ausbau sinnvoll. Bei den Ausschreibungen erhält derjenige Bieter den Zuschlag, der sich mit der niedrigsten staatlich garantierten Einspeisevergütung begnügt.
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