Der Nato-Gipfel, der am 11. Juli in Vilnius beginnt, wird einer der wichtigsten Gipfel in der Geschichte der nordatlantischen Allianz sein. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie halten wir es mit der Ukraine? Seit dem russischen Angriffskrieg ist klar, dass die Sicherheit der Ukraine auch die Sicherheit Europas betrifft. Aber wie genau sie in Zukunft garantiert werden soll, ist umstritten.
Die erste Variante ist das sogenannte „Israel-Modell“ oder auch, etwas bildhafter, das „Stachelschwein-Modell“. Die Idee dahinter ist, dass eine ukrainische Armee, die konstant westliche Unterstützung und Ausrüstung erhält, die beste Sicherheitsgarantie für das Land darstellt, solange die Kampfhandlungen noch andauern.
Ähnlich wie in den Beziehungen zu Israel würden sich die Unterstützer dazu verpflichten, formalisiert und langfristig – sprich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg – die Ukraine mit Waffen und Training zu unterstützen. Ausgerüstet wie ein „Stachelschwein“, würde die Ukraine es Russland so unmöglich machen, sich das Land einzuverleiben. Eine starke Ukraine könnte auch zukünftige Versuche Russlands, einen neuen Angriff zu starten, abschrecken.
Hohes Risiko für eine Eskalation
Das zweite Modell ist die Nato-Mitgliedschaftsperspektive. Theoretisch hat die Ukraine seit dem Bukarester Nato-Gipfel 2008 zwar die Zusage, irgendwann Mitglied werden zu können. In der Realität hieß dies bislang jedoch: am „Sankt Nimmerleinstag“.
Natürlich kommt eine Nato-Mitgliedschaft kaum infrage, solange auf dem Gebiet der Ukraine noch aktive Kampfhandlungen stattfinden. Denn die Konsequenz wäre, dass Artikel 5 – die Beistandsklausel – greifen würde. Die Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine würde ein sehr hohes Risiko für eine katastrophale Nato-Russland-Eskalation bedeuten.
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Es ist aber durchaus vorstellbar, der Ukraine bereits jetzt zuzusagen, dass sie nach Kriegsende ohne weitere Verzögerung der Nato beitreten kann. Einige europäische Nato-Staaten unterstützen dies.
Westdeutschland wurde 1955 in die Nato aufgenommen.
(Foto: REUTERS)
Die Gegner argumentieren, dass das Israel-Modell die einzig realistische Option ist. Denn das Versprechen einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nach Kriegsende reduziere für Putin jeglichen Anreiz, in Verhandlungen einzutreten oder die Kampfhandlungen einzustellen. Sie argumentieren, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine für den Kreml eine rote Linie darstellt, die nicht überschritten werden darf.
Tatsächlich werden damit jedoch die Argumente aus der Zeit vor dem Krieg wiederholt, die sich als überholt herausgestellt haben. Viele Jahre wurde vor einer konkreten Nato-Perspektive für die Ukraine gewarnt. Denn dies könne Russland provozieren, gegen die Ukraine militärisch vorzugehen.
Nun hat Russland genau das getan, ohne dass eine Mitgliedschaft auf dem Tisch lag – und hat damit die vom Westen vermutete rote Linie selbst ad absurdum geführt. Und was mögliche Verhandlungen betrifft, zeigt Putin bisher keinerlei Anzeichen für ernsthafte Gesprächsbereitschaft.
Es sprechen viele Gründe dafür, die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern beide Optionen zu kombinieren.
Sprich: einen Sicherheitspakt à la Israel mit einem Beitrittsversprechen nach Kriegsende zu vereinbaren. Ohne eine Nato-Perspektive wird die „Ukraine-Frage“ für Wladimir Putin und alle Nachfolger in seinem Geiste niemals ein für alle Mal beantwortet sein.
Auch für Europa ist die Verteidigungsfrage wichtig
Solange die Ukraine nicht Teil der Sicherheitsallianz ist, wird das Land für immer in der Grauzone bleiben. Selbst wenn Putin den Krieg nicht gewinnen kann, wird es eine Versuchung für alle seine Nachfolger sein, es immer wieder zu probieren und die Schmach von „damals“ zu sühnen. Der Krieg könnte auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte kein Ende finden.
Auch für Europa stellt sich die Frage, ob ein Zustand, in dem sich die Ukraine wie Israel unter konstanten Angriffen selbst verteidigen muss und einem andauernden Risiko ausgesetzt ist, die Lösung darstellt, die sich die EU für ihre unmittelbare Nachbarschaft wünscht. Es wäre ein harter Kontrast zum erfolgreichen, friedlichen und prosperierenden Modell der EU- und Nato-Erweiterung für Polen, die baltischen Staaten und weitere mittel- und osteuropäische Länder nach 1990.
Es ist überraschend, dass es gerade Deutschland und die USA sind, die zögern, eine Nato-Mitgliedschaft nach Kriegsende in Aussicht zu stellen. Frankreich hat inzwischen die Seiten gewechselt und unterstützt dies neuerdings.
Gerade mit Blick auf die eigene Geschichte ist dieser Widerstand verwunderlich. Westdeutschland wurde 1955 in die Nato aufgenommen.
Europa wurde durch die von den USA vorangetriebene Aufnahme der Mittel- und Osteuropäer in die Nato erfolgreich stabilisiert. Der richtige historische Moment ist jetzt da. Das Fehlen des politischen Willens könnte in Zukunft bereut werden.
Die Autorin:
Liana Fix ist Expertin für deutsche und europäische Russlandpolitik und Fellow am Council on Foreign Relations (CFR) in Washington, DC.
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