Erdogan habe eingewilligt, das Beitrittsprotokoll so rasch wie möglich dem türkischen Parlament vorzulegen, sagte Stoltenberg und sprach von einem „historischen Tag“.
Schweden hatte nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gemeinsam mit Finnland den Beitritt zum Militärbündnis beantragt. Die Türkei verzögerte die Ratifizierung aber mit dem Argument, Schweden gewähre Terroristen der kurdischen Arbeiterpartei PKK Unterschlupf. Schweden verschärfte daraufhin seine Gesetze und beschloss sogar eine Verfassungsänderung.
Doch die Türkei zeigte sich weiter unzufrieden. Koranverbrennungen von schwedischen Islamgegnern verschärften die Spannungen noch weiter. Die Lage schien aussichtslos zu sein.
Am Montag dann überschlugen sich die Ereignisse. Zunächst überraschte Erdogan die Bündnispartner, indem er die Zustimmung seines Landes zum schwedischen Beitritt an den Prozess für den türkischen EU-Beitritt knüpfte.
Bundeskanzler Olaf Scholz reagierte rasch mit einer Abfuhr: Schwedens Nato-Aufnahme und der EU-Betritt der Türkei hingen nicht miteinander zusammen, sagte er in Berlin.
Doch Spitzenvertreter der EU äußerten sich vorsichtiger. Etwa Ratspräsident Charles Michel: Der Belgier sagte dem türkischen Präsidenten zu, nach Möglichkeiten zu suchen, die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei zu „revitalisieren“.
Anders als Scholz unterstrich Michel also das europäische Interesse daran, das angespannte Verhältnis zur Türkei zu verbessern. Ohne inhaltliche Zugeständnisse zu machen, gab er damit Erdogan die Möglichkeit seine Blockade gesichtswahrend zu lösen.
Inzwischen ist klar: Auch die Türkei suchte nach einem Ausweg – denn sie war innerhalb der Nato fast vollständig isoliert. Vergangenen Woche hatte sich im Brüsseler Hauptquartier der Allianz der Wut über das Taktieren Erdogans entladen. Die Türkei würde „gegen alles“ Einwände vorbringen, hieß es.
Erdogan wollte offenbar den großen Auftritt
Einige Nato-Diplomaten vermuteten bereits am Wochenende, dass Erdogan auf dem Gipfel die Blockade lockern werde: Der türkische Präsident wolle einen großen Auftritt haben, er liebe das Rampenlicht.
Tatsächlich ist Erdogans Ja zum schwedischen Nato-Beitritt Teil eines größeren Manövers seit seinem Wahlsieg am 28. Mai. Der türkische Präsident hat den Westen offenbar wieder für sich entdeckt und bewegt sich politisch nun auf seine alten Partner zu.
Die Motive für Erdogans Wandel sind dabei vielfältig: Die türkische Volkswirtschaft benötigt Geld, um ihr chronisch hohes Haushalts- und Handelsdefizit zu finanzieren. Präsident Erdogan hat dafür einen neuen Finanzminister an Bord geholt. Beide fliegen planmäßig Mitte Juli auf die Arabische Halbinsel, um nach Investoren zu werben. Das wird jedoch nicht reichen – denn die größten Handelspartner der Türkei liegen immer noch in Europa.
Außerdem lohnt sich die absolut neutrale Haltung gegenüber Russland für die Türkei nicht mehr. Die Regierung in Ankara beteiligt sich immer noch nicht an westlichen Sanktionen gegen Russland und konnte damit vor allem im ersten Kriegsjahr einen guten Teil des russischen Außenhandels über die Türkei leiten und so wirtschaftlich profitieren.
Doch jetzt erhöhen die USA und die EU den Druck beim Thema Sanktionsumgehung. Nach Informationen des Handelsblatts schickt die EU noch diese Woche Finanzkommissarin Mairead McGuinness an den Bosporus.
Putin hat sich von Erdogan abhängig gemacht
Erdogan wiederum hat inzwischen mehrere Hebel gegen Putin in der Hand. Der Kremlchef gilt seit dem Wagner-Aufstand als geschwächt, Erdogan hat diese Lage ausgenutzt. So empfing der türkische Präsident am Freitag den ukrainischen Staatschef Wolodimir Selenski und versprach ihm Hilfe beim ukrainischen Nato-Beitritt. Außerdem wollen beide Staaten bei der Drohnenproduktion kooperieren.
Darüber hinaus ließ Erdogan sechs ukrainische Kriegsgefangene frei, die eigentlich bis Kriegsende im türkischen Exil bleiben sollten. Der Kreml protestierte scharf, konnte aber außer harten Statements nicht ausrichten. Putin hat sich von der Türkei abhängig gemacht, beim Handel, beim Tourismus und auch bei politischen Initiativen wie dem von der Türkei vermittelten Getreidedeal.
Erdogan hat mit dieser eigenständigen Russland-Doktrin seine eigene Position über anderthalb Jahre gestärkt. Das nutzt er nun.
Schon im Wahlkampf hatte Erdogan auf rhetorische Anfeindungen gegen den Westen oder Europa verzichtet. Sein altes Kabinett, das in Schlüsselressorts aus Hardlinern bestand, hat Erdogan nahezu komplett ausgewechselt.
Der ehemalige Chef des Geheimdienstes ist jetzt Außenminister, ein ehemaliger General der neue Verteidigungsminister. Auch der neue Energieminister gilt als pragmatisch, während es vor allem beim Thema Energie zuvor viel Streit zwischen der Türkei und der EU gegeben hatte. Jetzt stehen die Zeichen auf Kooperation. Mit dem Erzfeind Armenien laufen Gespräche über eine Annäherung, ebenso mit Ägypten sowie dem EU-Mitglied Griechenland.
Wann Schweden der Nato tatsächlich beitreten wird, ist bislang noch nicht klar. Stoltenberg sagte, er werde keine genauen Daten nennen, es handele sich aber um eine „klare Verpflichtung“. Den genauen Zeitpunkt müsse das türkische Parlament bekanntgeben. Neben der Türkei muss auch Ungarn dem Gesuch der Schweden noch zustimmen, die dortige Regierung hat aber keine grundsätzlichen Bedenken signalisiert, weshalb die Nato mit keinen weiteren Blockaden rechnet.
Mehr: Wie Biden und Scholz die Ukraine beim Nato-Gipfel vertrösten wollen
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