Brüssel Was Deutschlands Chinastrategie mit dem EU-Lateinamerika-Gipfel zu tun hat? Überraschend viel: Die Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, die Abhängigkeit von China zu überwinden – einem Handelspartner, der nicht nur Konkurrent, sondern auch Systemrivale ist. Das kann nur funktionieren, wenn Europa neue Wirtschaftsbeziehungen knüpft.
Doch wird sich am Montag und Dienstag in Brüssel zeigen, wie weit Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Die spanische EU-Ratspräsidentschaft hat zum Gipfel mit den Staaten Lateinamerikas geladen, mehr als 50 Staats- und Regierungschefs werden erwartet, auch Bundeskanzler Olaf Scholz.
Eigentlich sollte das Treffen dazu dienen, das Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay zu besiegeln – und damit die größte Freihandelszone der Welt zu schaffen.
Das wird nicht gelingen, so viel ist klar.
Bei einem Treffen der Mercosur-Staaten Anfang Juli hatte Argentiniens Präsident Alberto Fernández kritisiert, die Europäer würden mit Nachforderungen für das Umweltkapitel die Gespräche belasten und die wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit zu wenig im Blick halten. Auch Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte Vorschläge der Europäer als „inakzeptabel“ zurückgewiesen.
Streit um Waldschutz
Konkret geht es um die Zusatzerklärung zum Schutz des Regenwaldes, mit der die EU versucht, Zweifler in den eigenen Reihen zu beruhigen. Brasilien und Argentinien lehnen solche „Auflagen“ ab. Doch ein Gegenvorschlag der Mercosur-Staaten lässt auf sich warten. Damit ist unklar, ob es überhaupt noch gelingt, die inzwischen mehr als 20-jährigen Verhandlungen erfolgreich abzuschließen.
Die europäische Wirtschaft ist frustriert. „Die Unternehmen warten dringend auf das Abkommen“, sagt Uta Knott vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Nicht nur wäre der Abbau von Zöllen ein „enormer Faktor“ für die deutsche Wirtschaft. Das Abkommen wäre auch „ein wichtiges Signal, dass Europa es mit der Diversifizierung der Lieferketten ernst nimmt“.
Die Chefin des Automobilverbands VDA, Hildegard Müller, fordert ebenfalls, „schnellstmöglich“ eine Lösung für die offenen Punkte zu finden. Müller betont die neuen Absatzchancen für die eigene Branche, aber auch die „große gesamtwirtschaftliche und strategische Bedeutung“ des Abkommens. „Freihandel ist für unseren Kontinent existenziell und insbesondere für das Exportland Deutschland ein entscheidender Wohlstandsgarant“, sagt sie.
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Die EU-Kommission wie auch einzelne Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, haben neue Handels- und Rohstoffpartnerschaften mit Lateinamerika zur Priorität erklärt. Dabei geht es darum, die eigenen Lieferketten breiter aufzustellen und den Einfluss Chinas zurückzudrängen. Seit Monaten touren deshalb Kommissare und Regierungschefs durch die Region – mit bescheidenem Erfolg.
Autoindustrie hofft auf Absatzsteigerung
Zwar liegt seit 2019 ein Vertragstext für das Mercosur-Abkommen vor. Doch die Ratifizierung scheitert immer noch an Vorbehalten auf beiden Seiten. In Europa machen Umweltschützer Druck und verlangen verbindliche Klauseln für den Waldschutz.
Die EU will diesen Bedenken mit einem Zusatzprotokoll begegnen. Doch die Mercosur-Staaten sehen darin eine Bevormundung – einen Eingriff in ihre nationale Souveränität. Von Europäern, die ihre Urwälder abgeschlagen haben, brauche man keine Belehrungen, so das Argument.
Der Stillstand bringt die EU strategisch ins Hintertreffen. „Andere Länder, wie Japan, Südkorea und China, stehen ebenfalls bereit und wollen Abkommen mit dem Mercosur abschließen“, warnt VDA-Chefin Müller. Für die Autobranche sind die vier Mercosur-Länder schon jetzt ein wichtiger Absatzmarkt und Produktionsstandort.
Deutsche Unternehmen unterhalten dort mehr als 300 Standorte. Die südamerikanischen Importzölle sind mit 14 bis 18 Prozent auf Kfz-Teile und 35 Prozent auf Pkw relativ hoch. Ihr Wegfall würde dem Handel wohl einen deutlichen Schub geben.
Stefanie Sabet, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, erwartet für ihre Branche durch den Abbau von Zöllen Erleichterungen von mehreren Millionen Euro im Jahr.
Umweltorganisationen sehen Abkommen kritisch
Umweltorganisationen hingegen sehen das Abkommen aus genau diesen Gründen kritisch. Es fördere den Handel mit Produkten, die zur Zerstörung des Regenwalds beitrügen, sagt Martina Schaub von der Berliner Tropenwaldstiftung Oro Verde.
Im Blick hat sie vor allem Agrarprodukte wie Rind- und Hühnerfleisch, Soja und Ethanol, für deren Herstellung Flächen gebraucht werden. Die von der EU vorgeschlagene Zusatzerklärung zum Waldschutz reiche nicht aus, weil sie nicht rechtlich bindend sei.
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„Als Europäer sollten wir jede Möglichkeit nutzen, den Regenwald zu retten“, sagt sie. „Mit diesem Handelsabkommen können wir jedoch keinen Einfluss nehmen, weil es keine Sanktionen vorsieht.“ Der Vertrag sei veraltet und müsse neu verhandelt werden. „Handel sollte in diesem Jahrhundert immer zur sozial-ökologischen Transformation beitragen.“
Eine weitere Verschärfung der Klimaschutzvorgaben wollen die Wirtschaftsverbände verhindern. Denn dann, so die Befürchtung, werde der Handelsdeal nie kommen. „Auf keinen Fall sollte der Vertragstext noch einmal neu verhandelt werden“, sagt Knott vom BDI. „Eine Zusatzerklärung zum Klimaschutz muss ausreichen.“
Die südamerikanischen Regierungen hätten „den Eindruck, dass die Europäer immer noch mehr fordern. Aus Mercosur-Sicht hat die EU bereits ein sehr vorteilhaftes Abkommen für sich ausgehandelt.“
Derisking durch Diversifizierung
VDA-Chefin Müller warnt, dass man das Handelsabkommen nicht mit Themen „überfrachten“ sollte, die auf anderer Ebene besser gelöst werden könnten. Das zeige die kritische Reaktion der Mercosur-Länder auf die Zusatzerklärung zur Nachhaltigkeit.
Das Abkommen sei wichtig, weil es die Zusammenarbeit und den regelbasierten Handel fördere. „Bei vertiefter Kooperation können auch schwierige Themen auf einer besseren Basis angesprochen werden.“
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will den brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva bei einem bilateralen Treffen am Montagmorgen noch einmal dazu drängen, das Abkommen in diesem Jahr abzuschließen. „Wir haben dieses Jahr eine echte Chance“, sagt ein EU-Beamter.
Dass diese Chance genutzt wird, ist auch für Bundeskanzler Scholz wichtig. Er setzt darauf, dass es gelingt, die Abhängigkeit von China durch „Diversifizierung“ zu verringern, also den schrittweisen Abbau von einseitigen Risiken durch die Erschließung neuer Märkte. Scheitert der Mercosur-Deal, bliebe von seiner Strategie des „Derisking“ nicht viel übrig.
<< Den vollständigen Artikel: Geopolitik: Scheitert der EU-Lateinamerika-Gipfel, ist von „Derisking“ wenig übrig >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.