Bangkok, Berlin Bundesarbeitsminister Hubertus Heil wendet sich direkt an die jungen Inderinnen und Inder, die sich in den Plastikstuhlreihen drängen: „Meine Botschaft ist: Wir brauchen euch“, sagt der SPD-Politiker auf Englisch, als er am Donnerstag das Goethe-Zentrum in Thiruvananthapuram besucht, der Hauptstadt Keralas.
Aus diesem südindischen Bundesstaat sollen sich Pflegekräfte auf die lange Reise nach Deutschland machen, um dort den Fachkräftemangel zu lindern. Hier im Goethe-Zentrum erwerben sie erste Deutschkenntnisse. Die Ministerreise lässt sich in den sozialen Netzwerken verfolgen, auch wenn man nicht selbst vor Ort ist.
Als Arbeitsminister will Heil zu Hause zunächst die Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren erhöhen und Arbeitslose qualifizieren – also inländische Potenziale heben. Aber ohne Zuwanderung, das sagt der Minister immer wieder, wird Deutschlands Arbeitskräftepotenzial aufgrund der Alterung dramatisch schrumpfen.
Da die Migration aus EU-Ländern zurückgeht, ruhen die Hoffnungen vor allem auf Fachkräften aus Drittstaaten außerhalb der Union. Auch deshalb hat die Ampelkoalition das Migrationsrecht noch einmal vereinfacht. Heil warb bereits in Kanada, Brasilien und Ghana für das Einwanderungsland Deutschland, doch besonders große Hoffnungen ruhen auf Indien.
Das Land hat eine junge und oft gut ausgebildete Bevölkerung, darunter sind viele IT-Fachkräfte. Schon um die Jahrtausendwende hatte sich die damalige rot-grüne Bundesregierung deshalb um Computerexperten aus Indien bemüht, worauf CDU-Wahlkämpfer Jürgen Rüttgers seinerzeit mit dem umstrittenen Slogan „Kinder statt Inder“ reagierte.
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Dauerhaft geschadet hat er dem Image Deutschlands damit aber nicht. Die Bundesrepublik ist heute ein attraktives Zielland für Bildungs- und Erwerbsmigranten gerade aus Indien. Mittlerweile haben immerhin rund 5500 der insgesamt etwa 200.000 Inderinnen und Inder in Deutschland einen sozialversicherungspflichtigen Job als IT-Fachkraft. Bei den beliebtesten Ländern für ein Auslandsstudium liegt Deutschland in Indien auf Rang drei.
Inder sind in Deutschland größte Gruppe unter Erwerbsmigranten aus Drittstaaten
Das spiegelt sich auch in der Statistik hierzulande wider. Mitte vergangenen Jahres lebten insgesamt rund 228.000 Menschen aus Ländern außerhalb der EU befristet in Deutschland, um hier zu studieren oder eine Ausbildung zu machen – davon kam knapp jeder achte aus Indien. Einen größeren Anteil stellen laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit 15 Prozent nur Chinesinnen und Chinesen.
Bei den knapp 416.000 Erwerbsmigranten ist es umgekehrt. Hier stellen Inder mit einem Anteil von rund 13 Prozent die größte Gruppe, gefolgt von Einwanderern aus China mit gut sieben Prozent.
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Es sind vor allem bestens ausgebildete Akademiker, die sich aus Mumbai, Delhi, oder Bangalore auf den Weg nach Deutschland machen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes verfügten Ende 2022 rund 89.000 in Deutschland lebende Ausländer über eine Blaue Karte EU – davon stammte knapp jeder dritte aus Indien.
Mit der Blauen Karte EU dürfen Hochschulabsolventen nach Deutschland einreisen, wenn sie ein konkretes Jobangebot mit mindestens 58.400 Euro brutto Jahresgehalt haben. In den Berufsfeldern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Ingenieurwesen und der Humanmedizin liegt die erforderliche Gehaltsschwelle mit aktuell 45.552 Euro etwas niedriger.
Entsprechend ihrer meist hohen Qualifikation gehören die Inder zu den Topverdienern in Deutschland. Nach einer Ende 2021 veröffentlichten Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) verdienten sie in einem sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob im Mittel 4824 Euro brutto im Monat.
Damit lagen sie vor Skandinaviern, Österreichern, US-Amerikanern, Iren, Briten und Schweizern, die ebenfalls die 4000-Euro-Schwelle übersprangen. Deutsche Vollzeitbeschäftigte kamen demnach auf einen mittleren Bruttomonatslohn von 3541 Euro.
Viele Inder wollen zumindest zeitweise im Ausland arbeiten
Um die Einwanderung weiter zu erleichtern, hat die Bundesregierung Ende 2022 mit der Regierung in Neu-Delhi ein Migrationsabkommen unterzeichnet. Es soll die Weichen dafür stellen, „dass qualifizierte junge Inderinnen und Inder in Deutschland berufliche und praktische Erfahrungen sammeln, studieren, eine Ausbildung beginnen oder als Fachkraft arbeiten können“, wie Innenministerin Nancy Faeser (SPD) damals sagte.
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Das Interesse, sein Glück zumindest zeitweise im Ausland zu suchen, ist bei vielen jungen Inderinnen und Indern durchaus gegeben. Denn die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen liegt laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) bei hohen 23,2 Prozent.
Um Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben, gibt es verschiedene Projekte, darunter das Programm „Triple Win“. Über dieses sollen auch die jungen Pflegekräfte, die Arbeitsminister Heil am Donnerstag im Goethe-Zentrum in Thiruvananthapuram trifft, nach Deutschland kommen. Organisiert wird das Programm gemeinsam von der Bundesagentur für Arbeit (BA) und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).
Auf der Grundlage einer Vermittlungsabsprache mit den ausländischen Behörden werden Fachkräfte angeworben, beispielsweise mit Sprachkursen auf den deutschen Arbeitsmarkt vorbereitet und bei den Formalitäten unterstützt – in der Hoffnung, dass die Integration in Deutschland dann schneller gelingt.
Insgesamt kamen seit Programmstart im Jahr 2013 bis Ende vergangenen Jahres rund 4800 Pflegefachkräfte aus Kooperationsländern wie Mexiko, den Philippinen, Bosnien-Herzegowina oder Brasilien nach Deutschland, weitere 2100 Bewerber bereiten sich noch vor.
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Allerdings sind solche Partnerschaften nicht unproblematisch, wenn sie für die Herkunftsländer einen Braindrain bedeuten, also eine Abwanderung von qualifiziertem Personal, das zu Hause selbst gebraucht wird. Eine Studie des Beratungsunternehmens KPMG und der indischen Industrie- und Handelskammer FICCI zeigte im vergangenen Jahr auf, dass Indien etwa im Pflegebereich selbst unter einem eklatanten Fachkräftemangel leidet, der sich durch die Migration in reichere Länder zu verschärfen droht.
Die BA legt nach eigenen Angaben deshalb Wert darauf, nur in Ländern oder Regionen Pflegekräfte zu rekrutieren, wo kein Braindrain droht. In Indien beschränkt sie sich vor allem auf den Bundesstaat Kerala, da es dort aufgrund sehr guter Ausbildungskapazitäten einen Personalüberhang gibt. Dort kommen 960 Pflegekräfte auf 100.000 Einwohner, in Deutschland sind es nur 750.
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