Brüssel, Washington, Düsseldorf Es begann mit der Finanzkrise und setzte sich mit Donald Trump im Weißen Haus fort. Es folgten Pandemie, Drogenkrise, Waffenplage und der Niedergang einstiger Traumstädte wie San Francisco: Viele Europäer haben sich angewöhnt, mitleidige Blicke in Richtung USA zu werfen. Amerika wird als Land gesehen, dem seine Mittelschicht und seine Zuversicht abhandengekommen sind, tief gespalten und hoffnungslos überschuldet.
Diese Eindrücke sind für sich genommen richtig, aber in der Summe verzerren sie die Realität. Die ökonomischen Daten erzählen eine andere Geschichte: Die USA sind hochdynamisch und lassen Europa hinter sich.
Angesichts der schwachen Konjunkturdaten in Deutschland warnte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vor wenigen Tagen im Handelsblatt: „Die USA gehen mit massiv Geld rein und investieren. Deutschland darf sich hier nicht an den Spielfeldrand drängen lassen.“
Die amerikanische Wirtschaft wächst schneller, zieht mehr Investoren an als die Partner in Europa. Die Dominanz des Dollars im Welthandel ist ungebrochen, die Innovationskraft der Konzerne aus dem Silicon Valley unerreicht. Allein das amerikanische Software-Unternehmen Microsoft ist mit 2,63 Billionen Dollar mehr als doppelt so viel wert wie alle 40 Dax-Konzerne zusammengerechnet.
Amerikanische Unternehmen haben die Digitalisierung besser genutzt. Europa ist dagegen in traditionellen Branchen groß, die abgesehen von kurzzeitigen Sonderkonjunkturen nicht mehr wachsen. Mit dem Boom von Künstlicher Intelligenz nimmt die Kluft noch weiter zu. Führend sind Microsoft, Alphabet, Meta und Nvidia – alles US-Konzerne.
Wenn der derzeitige ökonomische Trend anhält, „wird das Wohlstandsgefälle zwischen dem Durchschnittseuropäer und dem Durchschnittsamerikaner im Jahr 2035 genauso groß sein wie zwischen dem Durchschnittseuropäer und dem Durchschnittsinder heute“, schreibt das European Centre for International Political Economy, eine Brüsseler Denkfabrik, in einer aktuellen Analyse.
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Berücksichtigt man unterschiedliche Lebenshaltungskosten, war die US-Wirtschaft 2008 um 15 Prozent größer als die europäische. Inzwischen beträgt die Kluft 31 Prozent.
Wachstumsmodell gesucht
Gerade Deutschland, das wichtigste und bisher ökonomisch erfolgreichste Land in Europa, geht angeschlagen in ein Jahrzehnt der Umbrüche. Das von Bundeskanzler Olaf Scholz versprochene neue Wirtschaftswunder zeichnet sich nirgendwo ab.
Die hohen Energiepreise belasten die Industrie, Unternehmen verlieren das Interesse am deutschen Markt. Die Beratungsfirma EY meldete zuletzt, dass die Zahl der ausländischen Investitionen in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit 2013 rangiert.
Auch die eigene Industrie investiert lieber in der Ferne. Der Chemiekonzern BASF etwa schließt eine Düngerfabrik in Ludwigshafen, während er in China für die Rekordsumme von zehn Milliarden Euro ein neues Werk errichtet.
Schlimmer noch: Die Autobranche, Deutschlands Leitindustrie, beginnt zu schwächeln. Zwar schöpfen VW, Mercedes und BMW noch immer Milliardenprofite, ihre Gewinnbringer sind aber vor allem Verbrennermodelle, Produkte, deren Zeit abläuft. Auf dem schnell wachsenden Markt für Elektro-Autos liegen der US-Hersteller Tesla und chinesische Firmen wie Geely und BYD vorne.
All das nährt die Angst vor der Deindustrialisierung. Inzwischen sind es die Amerikaner, die mitleidig über den Atlantik blicken. Vom „Rostgürtel am Rhein“ schrieb kürzlich das US-Portal Politico.
Die US-Industrie dagegen erlebt einen Investitionsrausch. Gigantische Schilder mit dem Aufdruck „Bidenomics“ rahmten eine Bühne in Chicago, auf der US-Präsident Joe Biden kürzlich seine bislang größte Wahlkampfrede zur amerikanischen Wirtschaft hielt.
Vom Rostgürtel zum „Battery Belt“
Der Begriff ist zum Schlagwort für Bidens milliardenschwere Standortpolitik geworden. „Ich habe das Amt übernommen, als unsere Wirtschaft in Scherben lag“, sagte Biden. „Heute haben die USA die höchste Wirtschaftswachstumsrate seit der Pandemie, die höchste in der ganzen Welt.“ Die US-Wirtschaft habe sich „schneller erholt als die anderen großen Industrieländer“, so der US-Präsident.
Das Weiße Haus unterfüttert die Wahlkampfrhetorik mit Daten: Seit dem Ausbruch der Pandemie ist die US-Wirtschaft um 5,4 Prozent gewachsen, während das Wachstum in den übrigen G7-Staaten durchschnittlich nur 1,3 Prozent betrug.
„Bidenomics“ scheint zu erfüllen, was Bidens Vorgänger Donald Trump nur ankündigte. So blieben die Investitionen ins produzierende Gewerbe in der Trump-Präsidentschaft unter 100 Milliarden US-Dollar jährlich.
Seit Bidens Subventionsprogrammen fließen inzwischen fast 190 Milliarden US-Dollar in die Fertigung. Im kommenden Jahrzehnt könne der Inflation Reduction Act (IRA) allein für saubere Energieprojekte bis zu drei Billionen Dollar an Investitionen mobilisieren, schätzen Analysten von Goldman Sachs, bis zum Jahr 2050 sogar elf Billionen.
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Wo einst die Schwerindustrie im „Rust Belt“ der USA verkümmerte, beleben nun Ausläufer eines „Battery Belt“ für Zukunftstechnologien ganze Regionen.
Amerikas Standortvorteile
Vor allem in konservativen Bundesstaaten und politisch umkämpften Swing-States entstehen Fabriken und Arbeitsplätze – und damit potenzielle Wählerschichten für die Demokraten. „Das Feuer brennt schneller und heißer als je zuvor“, sagte Pat Wilson, Chef der Wirtschaftsentwicklung des Bundesstaats Georgia. Seine Heimat profitiert besonders von neuen Ansiedlungen aus Europa und Asien.
Neuerdings betont die US-Regierung immer öfter, dass die USA mit ihrem Investitionsboom alle anderen Nationen abhängen. Der Aufschwung „findet in anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften nicht statt“, schrieb das Finanzministerium und verwies auf Japan und Deutschland.
„Es ist schon beeindruckend zu sehen, dass sich die USA am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen“, sagt Christoph Schemionek, Repräsentant der deutschen Industrieverbände BDI und DIHK in Washington.
„2008 hat man die amerikanische Automobilindustrie für tot gehalten, jetzt ist die Branche zurück“, dazu noch mit einem Fokus auf Nachhaltigkeit. „Wir sehen eine regelrechte Neuerfindung der USA“, sagt Schemionek.
Es sind nicht nur Subventionen, die Amerikas Standortvorteil ausmachen. Energie ist günstig und die amerikanischen Kapitalmärkte leiten Geld an innovative Firmen. Start-ups können so binnen weniger Jahre zu Weltkonzernen heranwachsen. Auf Zukunftsfeldern wie Künstlicher Intelligenz können allein die Chinesen mit den Amerikanern konkurrieren, europäische Firmen spielen praktisch keine Rolle.
US-Gewinnmaschinen gegen europäische Auslaufmodelle
Auch im Bankensystem verschärfen sich die Gegensätze. US-Institute sind hochprofitabel und spielen ihren Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren europäischen Konkurrenten aus. JP Morgan, Amerikas größte Bank, erzielte 2022 einen Gewinn von fast 38 Milliarden Dollar, die Deutsche Bank nahm nur fünf Milliarden Euro ein.
Konzernchef Jamie Dimon will den Klassenunterschied für eine Expansion nutzen: Die Europatochter von JP Morgan soll eine der drei größten Banken der Bundesrepublik werden, kündigte er nun im Interview mit dem Handelsblatt an.
Zu den gewinnträchtigsten Konzernen in Europa zählen vor allem Energiekonzerne, die nach dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine von den drastisch gestiegenen Öl- und Gaspreisen profitierten. Mit 40 Milliarden Euro verdiente Shell im abgelaufenen Jahr so viel wie kein anderer europäischer Konzern. Jeweils mehr als 25 Milliarden Euro fuhren Russlands Gazprom und Norwegens Equinor ein. Eine Wiederholung dieser Rekordgewinne erscheint angesichts stark gesunkener Preise ausgeschlossen.
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In den USA sind die Geschäftsmodelle der führenden Unternehmen zukunftsträchtiger. Apple, Microsoft und Alphabet bilanzierten 2022 einen Nettogewinn von zusammen gut 210 Milliarden Euro. Das ist gut doppelt so viel wie alle 40 Dax-Konzerne schaffen.
Und Amerika ist auch in der Breite erfolgreicher. „Nordamerikanische Unternehmen haben ihren Anteil am globalen Umsatz auf Sicht von zehn Jahren von 30 auf 38 Prozent deutlich ausgebaut“, hat Thomas Neukirch, Leiter der strategischen Vermögensverwaltung bei HQ Trust, errechnet. Der größte Verlierer bei den globalen Umsatzanteilen sei dagegen Europa. Hier ging es binnen eines Jahrzehnts von 30 auf 23 Prozent nach unten.
Fachkräfte werden knapp
All das wirkt sich auf die Lohnentwicklung aus. Seit der Finanzkrise 2008 ist das durchschnittliche Jahresgehalt in den USA von 66.000 auf 77.000 Dollar gestiegen. In Deutschland stieg es von 52.000 auf immerhin noch 59.000 Dollar. Aber in anderen europäischen Ländern wie Italien und Spanien gingen die Durchschnittseinkommen zurück.
Ein Grund für die steigenden Löhne in den USA ist der hohe Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Sie sind in Zeiten der Nahezu-Vollbeschäftigung so begehrt wie nie, das wiederum könnte den US-Boom bremsen. „Der Mangel an Personal ist das größte Risiko, es gibt einfach nicht genügend Arbeitskräfte“, erklärt Industrielobbyist Schemionek. „Die Unternehmen könnten noch mehr Geschäfte machen, müssen aber Aufträge ablehnen.“
Auch deutschen Industriebetrieben fehlt qualifiziertes Personal, aber zum Fachkräftemangel kommen in Europa die hohen Energiepreise und der unsichere Konjunkturausblick. Aus europäischer Sicht sehen die Nöte der amerikanischen Firmen eher wie ein Luxusproblem aus.
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