Tel Aviv In Israel bahnt sich ein Exodus von jungen Tech-Firmen an. 68 Prozent der in einer Studie befragten Start-ups haben bereits Schritte unternommen, die es ihnen gegebenenfalls erleichtern würden, Israel zu verlassen. Nach der von der Regierung eingeleiteten Justizreform bangen die befragten jungen Unternehmen um die Demokratie in Israel.
Die Mehrzahl der Tech-Unternehmen stellt rechtliche und finanzielle Erwägungen an, um sich von ihrem jetzigen Standort zu lösen. Die Firmen ziehen Bargeldreserven ab, prüfen eine Verlegung ihres Hauptsitzes ins Ausland oder bereiten sich auf Personalabbau vor. Israel zählt bisher zu den weltweit innovativsten Standorten für Tech-Unternehmen.
Die Zahlen, die in diesem Monat von der Nichtregierungsorganisation „Start-up Nation Central“ in einer Umfrage bei mehreren Hundert Jungfirmen erhoben wurden, sind nach Ansicht von Experten ein Alarmsignal. In der ersten Hälfte des Jahres 2023 waren die Finanzierungen von Start-ups bereits um fast 70 Prozent eingebrochen, während sich viele neue Unternehmen im Ausland registrieren ließen.
Seit Anfang der Woche hat sich der Handlungsdruck der Start-ups noch einmal erhöht. Am Montag verabschiedete Israels Parlament ein Gesetz, das die Handlungsmöglichkeiten des Obersten Gerichtshofs einschränkt. Es ist Teil eines größeren Pakets der Regierung, das von Kritikern als Gefahr für Israels Demokratie eingestuft wird.
Der Exodus der Start-ups sei ein Rückfall in die frühen 2000er-Jahre, sagt Eynat Guez, Mitbegründerin des Fintech-Unternehmens Papaya Global. Damals mussten israelische Tech-Gründer in die USA umziehen und dort Unternehmen gründen, um Gelder zu beschaffen. Lediglich die Forschungsabteilungen verblieben im Mutterland.
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Dieses Szenario könne sich jetzt wiederholen, da Spitzenkräfte wegen der unsicheren Bedingungen das Weite suchten: „Tech-Ingenieure wandern ab“, sagt Guez. Einige gingen ins nahe Griechenland und Zypern, um vielleicht später zurückzukehren. „Andere aber zieht es dauerhaft nach Europa, ins Vereinigte Königreich oder in die USA.“ Bereits im Januar hatte das Unternehmen Papaya Global angekündigt, wegen der geplanten Justizreform in Israel seine Investitionen aus dem Land abziehen zu wollen.
Die Studie von Start-up Nation Central bestätigt, dass Papaya Global kein Einzelfall ist. Acht Prozent der Unternehmen geben an, dass sie bereits mit der Verlegung ihres Hauptsitzes begonnen haben, und 29 Prozent bekunden die Absicht, dies in naher Zukunft zu tun.
20 Prozent der Investoren konstatieren, dass die Unternehmen in ihren Portfolios mit der Verlagerung ihres Hauptsitzes begonnen haben, und 69 Prozent der Anleger wissen, dass die Unternehmen eine solche Verlagerung durchziehen wollen.
„Die sogenannten Reformen der Regierung haben bereits jetzt verheerende Auswirkungen auf die israelische Start-up-Industrie“, klagt Roy Carty vom Fintech-Start-up Liquidity Group. Die meisten Neugründungen würden als amerikanische Unternehmen registriert, zusammen mit den Patenten.
Er befürchtet einen regelrechten Braindrain: „Immer mehr einheimische Talente wollen kurz-, mittel- oder langfristig wegziehen.“ Viele im Tech-Sektor könnten sich nicht vorstellen, die nächste Generation der Unternehmen unter einem autoritären Regime zu gründen. Auch die Aussichten auf eine von fundamentalistischen religiösen Vorstellungen geprägte Wirtschaftspolitik schrecke die Szene enorm ab.
Falls die Krise über eine längere Zeit anhalte, werde es Jahre dauern, bis der Schaden wieder beseitigt sei, sagt Gigi Levy-Weiss vom Start-up NFX, das jungen Unternehmen Wagniskapital zur Verfügung stellt.
Vor „negativen Folgen für Israels Wirtschaft und Sicherheitslage“ warnen auch internationale Ratingagenturen. Moody’s spricht von einem „erheblichen Risiko“ erhöhter politischer und sozialer Spannungen in Israel, nachdem das erste Gesetz der umstrittenen Justizreform verabschiedet worden ist.
Die Agentur hält den Ausblick für Israels Kreditwürdigkeit vorerst aber bei „stabil“, nachdem sie ihn im April von „positiv“ auf „stabil“ gesenkt hatte. Begründet wurde dies damals mit der „Verschlechterung der israelischen Regierungsführung“ und den Unruhen im Zusammenhang mit dem Versuch der Regierung, das Justizwesen grundlegend zu reformieren.
Die israelischen Aktien setzen seit der Verabschiedung des Gesetzes ihre Talfahrt fort. Zugleich gab die israelische Währung kräftig nach, da die Märkte befürchten, dass die internationalen Ratingagenturen den Ausblick für die Kreditwürdigkeit des Landes über kurz oder lang herabstufen könnten.
Weil bereits Petitionen für die Wiedereinführung der sogenannten Angemessenheitsklausel beim Obersten Gerichtshof eingereicht wurden, habe sich das Risiko einer Verfassungskrise zwischen der Exekutive und der Judikative erhöht. Mit der am Montag von der Knesset beschlossenen Abschaffung der Angemessenheitsklausel wird dem Obersten Gerichtshof die Kompetenz genommen, Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister als „unangemessen“ zurückzuweisen. Die Abschaffung dieser Klausel könne der Korruption und der willkürlichen Besetzung wichtiger Posten Vorschub leisten, befürchten Gegner der Reform.
In der Start-up-Szene gibt es jedoch auch Stimmen, die die Befürchtungen für übertrieben halten. Ein Wagniskapitalinvestor, der anonym bleiben möchte, setzt zum Beispiel darauf, dass die angepeilten Reformen nur vorübergehend in Kraft bleiben. Bei den nächsten Wahlen in dreieinhalb Jahren, so seine Prognose, werde sich wahrscheinlich wieder eine liberale Mehrheit ergeben.
Zwar geht auch er davon aus, dass israelische Unternehmer in die USA abwandern, hält dies aber eher für eine gute Nachricht. Die mangelnde Bereitschaft von Gründern, in die USA umzuziehen, habe das Wachstum von Jungfirmen in den vergangenen Jahren oft gebremst, argumentiert der Investor und ergänzt: „Das Zentrum der Forschung und Entwicklung wird weiterhin in Israel bleiben.“
Laut Kfir Ben-Shooshan, Mitbegründer des E-Scooter-Herstellers Inokim, habe Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in seiner Zeit als Finanzminister und später als Premier „seine Meisterschaft im Umgang mit der Wirtschaft unter Beweis gestellt“. Ben-Shooshan ist deshalb zuversichtlich, dass Netanjahus Regierung „alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Technologiebranche zu unterstützen“. Er werde ein Umfeld schaffen, das Unternehmen zum Verbleib in Israel ermutigt.
Andere halten diese Einschätzung für zu optimistisch. Der Gründer einer Gaming-Firma, der nicht namentlich genannt werden will, weist auf Netanjahus schwache Position in der aktuellen Koalition hin. Er sei von radikalen Kräften abhängig und werde eine liberale Politik kaum durchsetzen können.
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