Saporischja Nach einem schwülen Tag mit heftigen Regenschauern genießen die Menschen den lauen Sommerabend im Freien. Als der Luftalarm in Saporischja ertönt, reagiert niemand. Er ist Routine. Wenige Sekunden später knallt es aber laut hinter den Häusern. Auto-Alarme heulen auf, die Leute zücken ihre Handys: Ein russischer Luftangriff hat am Donnerstagabend das nahe Stadtzentrum getroffen.
Zwei Iskander-Marschflugkörper schlugen unmittelbar neben dem Hotel „Reikartz” am Dnipro-Ufer ein, das bei ausländischen Journalisten und Hilfsorganisationen beliebt ist. Sie hinterlassen zwei tiefe Krater, ihre Splitter trafen Passanten, durchlöcherten die Hotelfassade und ein knappes Dutzend Autos. Die Marschflugkörper töteten eine Frau und verletzten 16 Personen. Nur eine Stunde zuvor war auf dem Gelände ein Sommerlager für Kinder zu Ende gegangen.
Russlands Raketenterror ist für die Ukrainer auch fast eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn trauriger Alltag. Die Hoffnung, Moskau könnten die Marschflugkörper und Raketen irgendwann ausgehen, hat sich nicht erfüllt. Vielmehr waren die Angriffe in den letzten Wochen wieder besonders intensiv; auch am Freitag setzte Russland vier Kinschal-Hyperschallraketen ein, abgeschossen wurde nur jene über Kiew.
Neu ist jedoch, dass die Russen nun regelmässig jene relativ nahe an der Front gelegenen Hotels ins Visier nehmen, die stark von Ausländern frequentiert werden. Das „Reikartz“ in Saporischja war das zweite innerhalb kürzester Zeit. Bereits am letzten Wochenende hatte im Donbass eine Rakete das „Druschba“ in der Kleinstadt Pokrowsk zusammen mit einem populären Restaurant zerstört. Die Attacke auf den belebten Stadtteil forderte mindestens neun Todesopfer.
Die Behauptung von Russlands Propaganda, man nehme mit solchen Raketenangriffen Kommandoposten der ukrainischen Streitkräfte und ausländische „Söldner“ ins Visier, ist absurd. Natürlich übernachten auch Soldaten zuweilen an diesen Orten, aber von einer militärischen Einrichtung kann keine Rede sein.
Vielmehr gibt es etwa in Pokrowsk schlicht nur wenige Orte, wo Auswärtige unterkommen können. Die relativ preiswerten Hotels der “Reikartz”-Kette heben sich durch ihre leichte Erreichbarkeit an Ausfallstraßen und ihren westeuropäischen Komfort von anderen ab.
Basis der Uno
Nun gehört es zur eigenen Logik der internationalen Medienwelt, dass Attacken wie jene am Donnerstag wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhalten als solche, die sich „nur“ gegen ukrainische Zivilisten richten. Russland zielt damit allerdings direkt auf die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen. Diese tragen wesentlich dazu bei, das Überleben jenes Teils der Bevölkerung zu sichern, der vom Krieg am schwersten betroffen ist.
Die Uno-Koordinatorin für humanitäre Hilfe in der Ukraine brachte ihre Empörung über „das unvorstellbare Ausmaß der völkerrechtswidrigen Angriffe gegen zivile Infrastruktur“ zum Ausdruck, zu denen auch jener in Saporischja gehöre. Laut Denise Brown war das „Reikartz“ die Operationsbasis für ihr Team in der Region. Von hier aus sei etwa die Evakuierung von Zivilisten aus dem Asowstal-Werk in Mariupol koordiniert worden.
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Russlands jüngsten Attacken zielen aber auch gegen die Pressefreiheit, da sie ausländischen Medien die Berichterstattung deutlich erschweren. Bereits heute haben viele Medienhäuser äußerst restriktive Regeln für ihre Journalisten, da sie nicht die Verantwortung für ein schwer kalkulierbares Risiko übernehmen wollen. Seit Februar 2022 wurden laut dem Committee to Protect Journalists 17 Medienschaffende getötet, unter ihnen sieben aus Westeuropa und den USA.
Eine schwächere zivile Präsenz des Westens dürfte durchaus im Sinne der russischen Propaganda sein, deren Ziel darin besteht, Desinformation zu verbreiten und Misstrauen zu schüren. Dies gestaltet sich leichter, wenn nur ukrainische Quellen zur Verfügung stehen, die naturgemäß parteiisch sind. In der zynischen Logik des Kremls bedeutet weniger humanitäre Hilfe aus dem Ausland auch mehr Druck auf die ukrainische Regierung, den Krieg zu beenden.
Autowracks und Trümmerteile
Bemerkenswert ist, wie gleichmütig die Ukrainer Russlands Terror ertragen. Am Einschlagsort präsentiert sich einen Tag nach dem Angriff zwar weiterhin ein Bild der Verwüstung. Doch die Stücke des zerfetzten Zauns sind bereits zur Seite geräumt, die Äste der entwurzelten Bäume säuberlich gestapelt. Ein Abschleppwagen kümmert sich unter Aufsicht der Polizei um die Autowracks.
Neben dem abgesperrten Hotelgelände haben sich Schaulustige versammelt. Zwei ältere Herren philosophieren über verschiedene Raketentypen, während vier Teenager über die Größe der Krater staunen. Einige Männer sind hineingestiegen und sammeln Trümmerteile der Iskander ein. „Es soll ja Sammler geben, die so etwas suchen“, meint einer. Sonst verkauft er das Altmetall für umgerechnet einen Franken pro Kilo. Dann heult wieder der Luftalarm. Dieses Mal folgt kein Knall.
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