Berlin Manchmal geht es den Unternehmen wie Gulliver im sagenhaften Liliput: So wie der Romanheld durch ein Geflecht von dünnen Fäden am Boden gehalten wird, lähmen zahllose bürokratische Vorschriften die Firmen – allen Entlastungsbeteuerungen der Regierung zum Trotz.
Bei der Kabinettsklausur Ende August in Meseberg will Justizminister Marco Buschmann (FDP) Eckpunkte für ein Bürokratieentlastungsgesetz vorlegen. Unter anderem plant er, handels- und steuerrechtliche Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege von zehn auf sieben Jahre zu verkürzen, wie Buschmann der Deutschen Presse-Agentur sagte.
Doch wenn es in Deutschland wirtschaftlich wieder bergauf gehen soll, müssen die Unternehmen umfassender entfesselt werden, fordert die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW). Wo die Regierung ansetzen könnte, zeigt der Verband in einem im Mai veröffentlichten Positionspapier.
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„Beispielhaft für unbürokratisches Behördenhandeln waren die Verfahrenserleichterungen des LNG-Beschleunigungsgesetzes im Sommer 2022“, sagte VBW-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt dem Handelsblatt. Um die dringend benötigten Flüssiggasterminals schnell bauen zu können, wurde auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung verzichtet.
Außerdem wurden die Auslegungspflichten für Planungsunterlagen auf eine Woche reduziert und Einwendungsfristen verkürzt. „Der damit mögliche vorzeitige Baubeginn hat eindrucksvoll gezeigt, was mit entschlossenem Handeln erreicht werden kann“, sagte Brossardt.
Solche Entschlossenheit wünscht sich die Wirtschaft auch an anderer Stelle. Das sind fünf große Bürokratie-Ungetüme – und wie sie sich bekämpfen ließen.
Entgeltbescheinigungspflichten in der Sozialversicherung
Das Problem: Arbeitgeber müssen derzeit rund 40 Entgeltbescheinigungspflichten beachten, etwa für das Kranken-, Verletzten- und Übergangsgeld. Zwar können die Bescheinigungen zum Teil, wie beim Krankengeld, elektronisch übermittelt werden. Doch wegen zum Teil unterschiedlicher Berechnungsgrundlagen gibt es bisher keine Standardisierung. Ein Projekt zur Einführung eines elektronischen Entgeltnachweisverfahrens (Elena) wurde 2011 eingestellt.
Die Lösung: „Die Meldebescheinigungen müssen auf das absolut Notwendige beschränkt werden, die Papierbescheinigungen sind abzuschaffen“, fordert Brossardt. Eine Standardisierung werde einfacher, wenn der Gesetzgeber die Voraussetzungen für den Bezug von Sozialleistungen besser aufeinander abstimme.
Umsatzsteuervoranmeldung für Gewerbetreibende
Das Problem: Umsatzsteuerpflichtige Unternehmen müssen zusätzlich zur jährlichen Umsatzsteuererklärung eine Umsatzsteuervoranmeldung erstellen. Gewerbetreibende, die im Vorjahr weniger als 1000 Euro Umsatzsteuer gezahlt haben, müssen der Pflicht einmal im Quartal nachkommen, Unternehmen mit mehr als 7500 Euro gezahlter Umsatzsteuer sogar monatlich.
Die Regelung verteilt die Steuerlast über das Jahr und soll verhindern, dass gerade Kleinunternehmen in Zahlungsschwierigkeiten geraten, wenn sie zu Beginn eines Jahres die Umsatzsteuer auf einen Schlag abführen müssen. Allerdings führt sie auch zu Bürokratie, denn es können Verspätungszuschläge fällig werden, wenn Fristen versäumt werden.
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Die Lösung: Unternehmen, die im Vorjahr maximal 2500 Euro Umsatzsteuer gezahlt haben, sollen nach Vorstellungen der VBW nur noch die jährliche Steuererklärung abgeben. Bei bis zu 15.000 Euro gezahlter Umsatzsteuer soll die vierteljährliche Voranmeldung reichen.
Und Unternehmen, die für das laufende Jahr eine Umsatzsteuervorauszahlung in Höhe von 50 Prozent des Vorjahres leisten, sollen gar keine Voranmeldung machen müssen. Laut VBW würde diese Regelung Gewerbetreibenden und Finanzämtern mehrere Millionen Umsatzsteuererklärungen ersparen.
Zahlreiche Hürden im Bau- und Umweltrecht
Das Problem: Die oft jahrelange Dauer von Planungsverfahren für Bauvorhaben hemmt Investitionen. Die Bundesregierung hat bereits die Verwaltungsgerichtsverfahren für bedeutende Infrastrukturvorhaben gestrafft, um mit dem neuen „Deutschlandtempo“ bauen zu können. Doch bestehen Hürden fort.
So müssen laut Bundesimmissionsschutzgesetz Antragsunterlagen bis zur Genehmigung eines Projekts aktuell gehalten werden. Falls sich gesetzliche Vorgaben ändern, muss nachgebessert oder es müssen neue Unterlagen eingereicht werden. Auch lassen Behörden nur selten zu, dass Anlagenbetreiber schon vor der Genehmigung des Projekts mit dem Bau beginnen dürfen.
Eine Ausnahme machte man beispielsweise für den US-Autobauer Tesla im brandenburgischen Grünheide. Allerdings ist dafür eine Prognose über die Genehmigungsfähigkeit des Projekts nötig.
Die Lösung: „Im Bundesimmissionsschutzgesetz muss eine Stichtagslösung eingeführt werden“, schlägt Brossardt vor. Nach dem Stichtag müssten bei Gesetzesänderungen keine neuen Unterlagen eingereicht werden – es sei denn, die Änderungen beruhen auf neuen Erkenntnissen, die unmittelbar für den Schutz von Umwelt und Gesundheit notwendig sind.
Ein vorzeitiger Baubeginn sollte aus Sicht der VBW auch ohne Prognose der Genehmigungsfähigkeit möglich sein. Schließlich trage der Antragsteller das Risiko, falls der Bau am Ende doch nicht bewilligt werde.
Papierkram in der Personalarbeit
Das Problem: Das papierlose Büro ist auf dem Vormarsch, aber in der Personalarbeit beharrt der Gesetzgeber häufig noch auf der Schriftform. Bestimmte Dokumente müssen vom Aussteller und dessen Vertragspartner eigenhändig mit voller Namensunterschrift unterzeichnet werden.
„Die fortgeschrittenen Digitalisierungsbemühungen vieler Unternehmen bei elektronischen Personalakten und Arbeitsverträgen werden dadurch erheblich zurückgeworfen“, heißt es im VBW-Papier. Dass es auch anders geht, zeigt das Teilzeit- und Befristungsgesetz.
Demnach muss ein Arbeitgeber Beschäftigten, die einen Teilzeitwunsch äußern, eine begründete Antwort „in Textform“ mitteilen. Hier reicht eine einfache E-Mail.
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Die Lösung: Der Gesetzgeber sollte überprüfen, an welchen Stellen wirklich noch mit Füller unterzeichnete Dokumente erforderlich sind oder ob nicht auch digitale Unterschriften oder andere Formen der Zustimmungserteilung ausreichen.
Im seit gut einem Jahr geltenden Nachweisgesetz, das die EU-Arbeitsbedingungen-Richtlinie umsetzt, hat die Bundesregierung diese Chance verpasst. Die dort festgelegten erweiterten Informationspflichten muss der Arbeitgeber in Papierform mit Unterschrift erfüllen.
Entsendung von Arbeitnehmern ins europäische Ausland
Das Problem: Für viele Unternehmen gehört es zum Arbeitsalltag, Mitarbeiter ins europäische Ausland zu entsenden, damit sie dort Dienstleistungen erbringen können. Nach der EU-Entsenderichtlinie dürfen sie dort nicht schlechter behandelt werden als heimische Arbeitnehmer.
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Um das zu gewährleisten, wurde ein umfangreicher Meldeprozess etabliert. Allerdings haben alle 30 Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und die Schweiz eigene Meldeportale aufgebaut. Und von Land zu Land werden unterschiedliche Dokumente angefordert, die zum Teil in der Landessprache abgefasst sein müssen. Italien beispielsweise akzeptiert ausschließlich Mitteilungen auf Italienisch.
Die Lösung: Die VBW macht sich für ein einheitliches Vorgehen der Mitgliedstaaten mit einheitlichen Meldeportalen stark. Erreicht werden könnte dies über die neu geschaffene EU-Arbeitsbehörde mit Sitz in Bratislava.
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