Berlin Abschaffung der Hotelmeldepflicht, digitale Kündigung, verkürzte Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege – die Bundesregierung hat am Mittwoch bei ihrer Klausur im brandenburgischen Meseberg Eckpunkte für den Abbau von bürokratischen Hürden beschlossen. Das Papier mit den Entlastungsvorschlägen, über die das Handelsblatt schon vorab berichtet hatte, stammt von Bundesjustizminister Marco Buschmann.
Der FDP-Politiker sagte in Meseberg: „Wir sind überzeugt, viele Betriebe in Deutschland leiden unter einem bürokratischen Burn-out“. Durch die geplanten Maßnahmen für Bürger, Wirtschaft und Verwaltung würden 2,3 Milliarden Euro im Jahr eingespart. „In den Betrieben wird schneller künftig Papier auch mal weggeworfen werden können“, sagte Buschmann. Noch im laufenden Jahr soll ein konkreter Entwurf für ein Bürokratieentlastungsgesetz (BEG) vorgelegt werden.
Buschmanns aktuelle Pläne basieren auf Vorschlägen der jeweiligen Bundesministerien sowie auf einer Onlinebefragung von Verbänden, die 442 Vorschläge zum Bürokratieabbau eingereicht haben. Sie umfassen gut 600 Seiten.
Konkret sehen die Eckpunkte zum Beispiel vor, dass die handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege von zehn auf acht Jahre verkürzt werden. Das vereinfacht vor allem die Steuererklärung. Hotels sollen künftig nicht mehr für jeden einzelnen Gast einen Meldeschein ausfüllen müssen. Deutsche werden von der Hotelmeldepflicht ausgenommen. Die vorgeschriebenen Aufzeichnungen über Allergene, Zusatzstoffe und Aromen in lose verkauften Lebensmitteln sollen künftig nicht mehr schriftlich beim Verkäufer vorliegen müssen. Es genügt dann eine Aufzeichnung in digitaler Form.
Digitale Technologien sollen auch bei zivilrechtlichen Bedarfen eingesetzt werden können. Künftig soll es möglich sein, zum Beispiel eine schriftliche Kündigung eines Mietverhältnisses mit einem Smartphone zu fotografieren und diese elektronische Kopie dem Erklärungsempfänger zu übersenden.
Großer Wurf oder nur Klein-Klein?
Doch was taugt der aktuelle Vorstoß? Kann ein großer Wurf gelingen, oder ergibt sich am Ende doch wieder nur ein Klein-Klein, wie es die Wirtschaft bei den vorangegangenen drei Gesetzen bemängelt hatte?
Bürokratieexperten haben die Eckpunkte für das Handelsblatt analysiert:
Klaus-Heiner Röhl vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln findet es zwar „prinzipiell positiv“, dass der Abbau lähmender Bürokratie nun stärker ins Blickfeld der Bundespolitik rückt. Allerdings komme der Elan mit Blick auf die Legislaturperiode recht spät: „In gut einem Jahr dürfte bereits der Wahlkampf beginnen und Umsetzungen in kritischen Bereichen wie dem Arbeitsrecht unmöglich machen.“
Im Bereich der belastenden Bürokratie für Unternehmen seien „nur überschaubare Fortschritte“ zu erkennen: „Am bedeutsamsten ist hier die Verkürzung der handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege von zehn auf acht Jahre, die den Unternehmenssektor generell entlastet.“
Viele den Unternehmenssektor betreffende Maßnahmen seien aber nur für sehr wenige Unternehmen relevant, etwa der Wegfall der Antragspflicht für zwischen deutschen Seehäfen fahrende Schiffe von außerhalb der EU.
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Dass die Regierungsvorschläge zu einem erheblichen Teil auf eine stärkere Nutzung digitaler Lösungen setzen, befürwortet der IW-Experte ausdrücklich. Gemeint ist etwa der geplante Verzicht auf das Schriftformerfordernis in diversen Bereichen, etwa bei der Kündigung von Mietverträgen. Auch soll die Digitalfunktion des Reisepasses zukünftig bei Flugreisen genutzt werden können und die Kontrollen beschleunigen.
Röhl kritisiert jedoch, dass eine Onlinegründung mit einer Identifizierung beispielsweise über den digitalen Personalausweis, wie sie in Österreich oder Dänemark bereits möglich ist, laut Eckpunktepapier weiterhin nur „angestrebt“ werde.
Zudem mute es in diesem Zusammenhang „widersprüchlich“ an, dass die Bundesmittel zur Verwaltungsdigitalisierung im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes (OZG) vor Kurzem gekürzt worden seien und es keine konkreten Zeitpläne mehr für die weitere Digitalisierung der Verwaltung gebe.
Bürokratieabbau soll jährlich mehr als zwei Milliarden Euro sparen
Jörg Bogumil, Politik- und Verwaltungswissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, erkennt einige Maßnahmen in Buschmanns Papier, „die wirklich deutliche Fortschritte“ mit sich bringen könnten, etwa die angedachte Abschaffung von Informationspflichten für die Wirtschaft.
„Sammelsurium von Vorschlägen“
So sei die Abschaffung der Hotelmeldepflicht „ein sehr guter Schritt“. Allerdings sei noch nicht klar, welche weiteren Informationspflichten in den Blick genommen würden. Auch beim „extrem hinderlichen“ Vergaberecht bleibe unklar, in welche Richtung Reformen gehen sollen.
In dem „Sammelsurium von Vorschlägen“ findet der Verwaltungswissenschaftler allerdings auch Phrasen, zum Beispiel beim Bürgergeld. Da heiße es, durch das neue Gesetz seien Service und Leistungen zugänglicher gemacht worden. „Das stimmt aber überhaupt nicht“, erklärt Bogumil. „Bei der Beantragung und der Nachweispflicht hat sich gar nichts verändert.“
Während der Bochumer Bürokratieexperte es positiv wertet, dass künftig Praxischecks durchgeführt werden sollen, etwa für Unternehmensgründungen, verweist IW-Experte Röhl darauf, dass es im Wirtschaftsministerium solche Checks bereits für Planungs- und Genehmigungsverfahren gebe, „mit bislang schwachen Ergebnissen“.
Zum Teil würden mit Wirtschaftsverbänden gemeinsam angedachte Praxischecks auch mit Verweis auf Personalengpässe im Ministerium immer wieder verschoben, berichtet Röhl.
Ohnehin ist der IW-Experte skeptisch, was die im Eckpunktepapier beschworene Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren anbelangt. Denn die konkreten Vorhaben beziehen sich demnach im Wesentlichen auf den Ausbau erneuerbarer Energien wie Photovoltaikanlagen, Windkraftwerke und die Nutzung der Geothermie.
Röhl meint: „Eine durchgehende Beschleunigung für die Genehmigung industrieller Vorhaben ist mit den bislang geplanten Maßnahmen vermutlich nicht zu erreichen.“
Alle Experten lobten die Initiative zur Entbürokratisierung auf EU-Ebene, die zusammen mit Frankreich initiiert werden soll. IW-Experte Röhl hält es jedoch für problematisch, dass die Kommission unter Ursula von der Leyen diverse bürokratieträchtige Vorhaben wie das Lieferkettengesetz und die umfangreichere Nachhaltigkeitsberichterstattung erst selbst auf den Weg gebracht hätten.
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„Auch das Erfordernis zur umfassenden betrieblichen Arbeitszeiterfassung leitet sich aus europäischem Recht ab“, betonte Ökonom Röhl. „Inwieweit hier eine Bereitschaft zum Kurswechsel besteht, bleibt abzuwarten.“
Wirtschaft: Beschlüsse etwas kleinteilig
Aus der Wirtschaft kam am Mittwoch verhaltene Zustimmung. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger mahnte, die Regierung müsse jetzt aber auch liefern: „Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist sonst ernsthaft in Gefahr.“
Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall begrüßt den „Einstieg“ in den Bürokratieabbau. „Das lässt hoffen, dass die Bundesregierung endlich den Ernst der Lage erkannt hat“, erklärte Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf, kritisierte jedoch: „Angesichts der Herausforderungen wirken die Beschlüsse auf den ersten Blick etwas kleinteilig.“
Die Präsidentin des Verbands Die Familienunternehmer, Marie-Christine Ostermann, sprach von einem Lippenbekenntnis. Sie verwies auf das Lieferkettengesetz, das Unternehmen ab einer bestimmten Größe verpflichtet, Kinderarbeit oder gravierende Umweltverstöße bei der Herstellung ihrer Produkte auszuschließen. Sie müssen dazu Berichte erstellen.
Aus der Opposition kamen kritische Töne. „Bloße Eckpunkte zum Bürokratieabbau helfen weder der Wirtschaft noch den Bürgerinnen und Bürgern“, erklärte der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Günter Krings (CDU). Bisher würden die Minister Buschmann und Habeck derartige Projekte nur ankündigen.
„In der praktischen Gesetzgebung tun sie aber genau das Gegenteil und bringen immer neue Ampelgesetze als Bürokratiemonster auf den Weg“, sagte Krings. Durch die Ampelpolitik würden Wirtschaft und Bürger in wirtschaftlich ohnehin schwierigen Zeiten noch zusätzlich massiv belastet – wie durch das Heizungsgesetz als Beispiel planwirtschaftlicher Energiepolitik.
Chef des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) Lutz Goebel, Deutschlands Wächter für Bürokratieabbau, forderte am Mittwoch „einfache und praxistaugliche“ Gesetze. „Wenn unsere Gesetze so kompliziert werden, dass sie nicht mehr umgesetzt werden können, ist niemandem geholfen“, sagte der Vorsitzende des unabhängigen Kontroll- und Beratungsgremiums der Bundesregierung.
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Verwaltungsprozesse dauerten immer länger, Behörden seien überlastet, Gerichtsverfahren zögen sich hin. Das Zutrauen der Bürger in Politik, Staat und Verwaltung sinke von Jahr zu Jahr. „Bürokratieabbau ist deshalb auch ein Beitrag zur Demokratiesicherung“, erklärte der NKR-Chef.
Bürokratieexperte Bogumil sieht die Ebene der Verwaltung im Eckpunktepapier gar „komplett ausgeklammert“. Er kritisiert, dass die Mitarbeiter in den Behörden viel zu sicherheitsorientiert und zu stark juristisch geschult seien: „Die Paragrafenreiter prüfen alles und jedes und machen damit das Verfahren an sich kompliziert.“ Das sei ein wichtiger Grund für zu viel Bürokratie. Auch hier müsse angesetzt werden: „Ein kompletter Mentalitätswandel ist nötig.“
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