München In der Affäre um ein altes antisemitisches Flugblatt wächst der Druck auf Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger immer weiter. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte den Freie-Wähler-Chef am Mittwoch auf, die ihm gestellten 25 Fragen rasch, umfassend und zweifelsfrei zu beantworten, auch zu neuen Vorwürfen.
Auf Aiwangers Account im Online-Netzwerk X (früher Twitter) wurde am späten Mittwochabend folgende Nachricht veröffentlicht: „Es wird immer absurder. Eine andere Person behauptet, ich hätte Mein Kampf in der Schultasche gehabt. Wer lässt sich solchen Unsinn einfallen!?“ In aller Regel verfasst der Freie-Wähler-Chef sämtliche Posts selbst. Ob das auch diesmal der Fall war, dafür gab es zunächst keine Bestätigung.
Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte zuvor eine nicht namentlich genannte frühere Mitschülerin Aiwangers zitiert, dieser habe oft Adolf Hitlers „Mein Kampf“ in der Schultasche mit sich geführt. Sie könne dies bestätigen, weil sie das Buch selbst in der Hand gehalten habe.
Die Spitzen der Berliner Ampel-Koalition, Kanzler Olaf Scholz (SPD), Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), verlangten ebenfalls Aufklärung – und gegebenenfalls Konsequenzen. Die Freien Wähler in Bayern stellten sich dagegen geschlossen hinter Aiwanger und beklagten eine „Schmutzkampagne“.
Zuvor waren „neue Vorwürfen“ eines weiteren ehemaligen Mitschülers Aiwangers bekannt geworden: Aiwanger soll in den 1980er Jahren beim Betreten des schon besetzten Klassenzimmers ab und zu „einen Hitlergruß gezeigt“ haben, wie der Mitschüler dem ARD-Magazin „Report München“ sagte, demnach ein Mitschüler von der 7. bis 9. Klasse. Zudem habe Aiwanger „sehr oft diese Hitler-Ansprachen nachgemacht in diesem Hitler-Slang“. Auch judenfeindliche Witze seien „definitiv gefallen“. Welche „starke Gesinnung“ dahinter gesteckt habe, dazu sagte er: „Keine Ahnung.“
Aiwanger wehrt sich
Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger kann sich nach eigenen Angaben nicht erinnern, als Schüler den Hitlergruß gezeigt zu haben. „Mir ist nicht im Entferntesten erinnerlich, dass ich so etwas gemacht haben soll“, sagte der Freie-Wähler-Chef der „Bild“.
„Es ist auf alle Fälle so, dass vielleicht in der Jugendzeit das eine oder andere so oder so interpretiert werden kann, was als 15-Jähriger hier mir vorgeworfen wird. Aber auf alle Fälle, ich sag seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: Kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund“, sagte Aiwanger am Mittwoch am Rande eines Termins in Donauwörth dem Sender Welt im Beisein auch anderer Journalisten.
„Ich bin weder Antisemit noch Extremist, sondern ich bin ein Demokrat. Ich bin ein Menschenfreund, kein Menschenfeind“, bekräftigte er. „Und insofern sage ich das wirklich, dass ich hier für die letzten Jahrzehnte alle Hände ins Feuer legen kann.“ Was aus Jugendzeiten nun diskutiert werde, wundere ihn etwas.
Die Fragen von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) habe er erhalten. „Ja, ich habe die Fragen jetzt und schaue sie mir genau an.“ Er fügte auf Nachfrage hinzu: „Ja, natürlich ist die Situation sehr ernst. Und wir müssen hier die Sache uns genau anschauen und müssen uns gemeinsam jetzt mit dem Thema auseinandersetzen.“
Ob in seinen Schul-Akten noch Belastendes zu finden sein könnte, dazu sagte Aiwanger: „Lassen wir uns überraschen, was da jemand mir unter die Nase halten will.“
Gefragt nach Rückmeldungen, die er aktuell bekomme, sagte Aiwanger: „Ich habe sehr, sehr überwiegend die Aussage, dass hier eine Schmutzkampagne gefahren wird und dass ich hier politisch und auch persönlich zerstört werden soll.“ Die Menschen verstünden „diese Kampagne“ überhaupt nicht, sondern sagten sehr überwiegend: „Das kann doch nicht sein, dass man mit Dingen konfrontiert wird, die so lange her sind, dass hier gezielt dann diese Themen auch platziert werden offenbar. Also insofern sagen die Menschen, dass das nicht sauber läuft hier.“
Strack-Zimmermann: „Antisemitismus ist keine Jugendsünde“
Auf Aiwangers Profil auf X (ehemals Twitter) gab es erstmals seit Tagen einen neuen Eintrag: „#Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los. #Aiwanger“, stand dort am Mittwoch zu lesen. In aller Regel verfasst der Freie-Wähler-Chef sämtliche Posts selbst.
Die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann schrieb auf der Plattform X mit Blick auf Aiwangers Aussagen gegenüber dem Sender Welt: „Antisemitismus ist keine Jugendsünde. Antisemitismus ist kein Mopedausflug ohne Führerschein. Jegliche Relativierung ist unerträglich. Der Charakter eines Politikers zeigt sich auch im Umgang mit seiner früheren Geisteshaltung.“
Söder wartet nun auf Aiwangers schriftliche Antworten auf die 25 Fragen. Anschließend will er eine abschließende Bewertung vornehmen. Heißt: Dann wird er voraussichtlich ganz konkret entscheiden müssen, ob er Aiwanger entlässt oder nicht, und das keine sechs Wochen vor der Landtagswahl. Dabei steckt er in einem fast ausweglosen Dilemma: Im Falle einer Entlassung Aiwangers könnten die Freien Wähler bei der Landtagswahl massiv profitieren – so jedenfalls die große Sorge der CSU.
Andererseits könnten Söder und die CSU am Ende in Mithaftung genommen werden, wenn er trotz allem weiter an Aiwanger festhält.Der 52-jährige Aiwanger hatte am Samstagabend schriftlich zurückgewiesen, zu Schulzeiten ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet hatte.
Gleichzeitig räumte er aber ein, es seien „ein oder wenige Exemplare“ in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf gestand Aiwangers älterer Bruder ein, das Pamphlet geschrieben zu haben. Seither sind nun auch die Vorwürfe des Mitschülers dazugekommen.
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„Alle Fragen müssen zweifelsfrei geklärt werden. Da darf kein Verdacht übrig bleiben“, sagte Söder am Mittwoch. Aiwanger habe nun die Gelegenheit, sich vernünftig, fair und umfassend zu äußern. „Dazu sollen wir eine zeitnahe und maximal transparente Antwort auch erhalten, so dass wir dann auch eine glaubwürdige Diskussion darüber führen können, wie wir das bewerten.“
Am Dienstag hatte Söder gesagt: „Bis zur abschließenden Klärung, solange kein neuer Beweis vorliegt oder bisher Gesagtes komplett widerlegt werden kann, wäre eine Entlassung aus dem Amt eines Staatsministers ein Übermaß.“ Er fügte aber hinzu: „Das heißt, es darf jetzt auch nichts mehr dazukommen.“
Bundeskanzler Scholz sagte bei der Kabinettsklausur in Meseberg bei Berlin: „Alles das, was bisher bekannt geworden ist, ist sehr bedrückend. Und deshalb ist für mich sehr klar, dass alles aufgeklärt werden muss.“ Wenn das geschehen sei und nichts „vertuscht“ werde, müssten notwendige Konsequenzen daraus gezogen werden.
Regierung fordert von Söder und Aiwanger rasche Aufklärung
Habeck sagte in Meseberg, er finde Aiwangers Umgang mit den Berichten unaufrichtig. Er habe jüngst in verschiedenen Reden „offensichtlich“ eine Sprache des „rechten Populismus“ benutzt. Es sei eine Frage an Söder, ob er mit einem Kollegen, der so agiere, weiter zusammenarbeiten wolle. „Ich finde es schwer vorstellbar.“
Und auch Lindner sagte: „Der Umgang und die Aufklärungsbereitschaft sind in meinen Augen bislang nicht glaubwürdig.“ Es müsse dringend Klarheit geschaffen werden mit den dann gegebenenfalls nötigen Konsequenzen.
Aiwangers Partei steht hinter ihm
Die Freien Wähler in Bayern stehen geschlossen hinter Aiwanger. Das betonten mehrere Mitglieder des Partei- und Fraktionsvorstands am Mittwoch nach gemeinsamen Beratungen im Landtag in München. „Und das werden wir auch weiter tun“, sagte Generalsekretärin Susann Enders. Fraktionschef Florian Streibl sagte: „Wir sind mit ihm solidarisch.“ Es werde nun das Schicksal von Millionen Juden dazu instrumentalisiert, einen Politiker fertigzumachen, kritisierte er.
Streibl fügte in Reaktion auf Äußerungen Söders vom Dienstag hinzu: „Eine Botschaft müssen wir senden: Eine Koalition in Zukunft wird es auch nur mit Hubert Aiwanger geben.“ Auf Spekulationen, Aiwanger könnte in einer Art Rochade aus dem Ministeramt an die Spitze der Freie-Wähler-Fraktion wechseln, ging Streibl nicht ein. „Aiwanger wird immer irgendwie dabei sein. (…) Ohne wird’s nicht gehen.“
Söder hatte am Dienstag gesagt, er wolle die Koalition fortsetzen. Koalitionen hingen aber „nicht an einer einzigen Person“, sagte Söder. „Es geht mit oder ohne eine Person im Staatsamt ganz genauso.“
Umweltminister Thorsten Glauber von den Freien Wählern machte deutlich, dass er keine Grundlage für Söder sieht, Aiwanger zu entlassen. „Explizit ist hier nichts bewiesen.“ Was nicht bewiesen sei, sei nicht justiziabel. Es gelte die Unschuldsvermutung.
Mehr: Kommentar zur Aiwanger-Affäre: Söders gefährlicher Mittelweg
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