Sep 17, 2023
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Javier Milei: Wie ein Ultraliberaler Argentiniens siechende Wirtschaft wiederbeleben will

Written by Alexander Busch


Salvador Argentiniens Wirtschaft steckt tief in der Krise – und ein ultraliberaler Ökonom will sie mit für das Land unkonventionellen Maßnahmen retten. Der 52-jährige Javier Milei hat gute Chancen, bei der Wahl am 22. Oktober oder einer anschließenden Stichwahl zum neuen Präsidenten gewählt zu werden.

Bei den landesweiten Vorwahlen Mitte August überholte er die gesamte Konkurrenz aus dem politischen Establishment. Milei fordert den Wirtschaftsminister Sergio Massa, der eine peronistische, also eine auf die Ideologie des langjährigen Präsidenten Juan Domingo Perón zurückgehende Allianz hinter sich versammelt, und die oppositionelle Mitte-rechts-Kandidatin Patricia Bullrich heraus.

Die Inflation in Argentinien liegt bei 115 Prozent, in Lateinamerika die zweithöchste nach der in Venezuela. Die Teuerung droht unkontrollierbar zu werden und zur Hyperinflation auszuwachsen. Gerade hat Wirtschaftsminister Massa noch einmal die Sozialausgaben erhöht, um Stimmen zu gewinnen. Das dürfte die Entwertung weiter anheizen.

Milei hingegen will die Staatsausgaben radikal kürzen, sogar stärker als es der Internationale Währungsfonds (IWF) von Argentinien fordert. Er will die Wirtschaft öffnen, alle Staatskonzerne verkaufen und die Zentralbank abschaffen. Zudem will er neben dem bereits an den Dollar gekoppelten Peso die US-Währung als Zahlungsmittel einführen.

„In den 122 Jahren seit Beginn des letzten Jahrhunderts hat das Land 112 Jahre über seine Verhältnisse gelebt“, sagt er den Wählern offen. Sein Programm unterscheidet sich deutlich von dem der Konkurrenz – und genau davon könnte Milei profitieren.

Zerkratztes Wahlplakat des amtierenden Wirtschaftsministers Sergio Massa

Nach Einschätzung von Carl Moses, politischer Analyst und Berater in Buenos Aires, hat die Dauerkrise in Argentinien zu einem „völligen Verlust des Vertrauens in die Institutionen“ geführt. „Es ist eine frustrierte Gesellschaft, die völlig orientierungslos in die Zukunft sieht.“ Umso größer sei die Versuchung, sich etwas Neuem zuzuwenden.

Die Favoritenrolle Mileis ist auch die Folge eines Trendwechsels in der argentinischen Gesellschaft: Erstmals haben fast 60 Prozent der Wähler für liberale und konservative Politiker gestimmt.

„Das ist eine große Veränderung für Argentinien“, sagt der Meinungsforscher Augusto Reina vom Institut Pulsar UBA an der Universität von Buenos Aires. In Argentinien habe es immer eine Präferenz für einen Staat gegeben, der alle versorgt. Heute traue eine Mehrheit hingegen dem privaten Sektor eher zu, bestimmte Leistungen zu erbringen.

Berater Moses sieht heute deutlich bessere Chancen für tiefgreifende Reformen, um die Wirtschaft zu deregulieren und zu stabilisieren. „Wer auch immer die Präsidentschaft erringt, wird auf gestärkte Kräfte für liberale Reformen im neuen Parlament zählen können.“

Hintergrund ist, dass die beiden führenden politischen Gruppen aus Sicht vieler Argentinier seit mehreren Generationen wirtschaftlich versagt haben.

Argentinien ist vom internationalen Kreditmarkt isoliert

Es gibt kein anderes Land, das sich in einem Jahrhundert von einer der reichsten Volkswirtschaften weltweit zu einem Entwicklungsland zurückentwickelt hat. Vor mehr als hundert Jahren eröffnete das britische Luxuskaufhaus Harrods seine erste und einzige überseeische Auslandfiliale in Buenos Aires. Dort fuhr die erste U-Bahn Südamerikas. Doch seitdem geht es langsam, aber stetig bergab.

Milei überzeugt viele Wähler auch durch seine ökonomische Kompetenz. Er hat für einen wichtigen Pensionsfonds, aber auch Banken wie HSBC in Buenos Aires als Chefökonom gearbeitet. Jahrelang war er Finanzberater von Eduardo Eurnekián, einem der reichsten Unternehmer des Landes. Vor seiner politischen Karriere trat Milei in Talkshows als kontroverser Libertärer auf.

Obdachloser in Buenos Aires

Ein großer Teil der Argentinier lebt in Armut.

(Foto: AP)

Aber würde seine Politik für einen wirtschaftlichen Neustart Argentiniens reichen?

Argentinien hat ein Haushaltsdefizit von rund neun Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das ist im internationalen Vergleich nicht viel. Kolumbien und Brasilien etwa hatten vergangenes Jahr höhere Defizite als Argentinien im Staatsbudget. Doch das Land, das seit seiner Unabhängigkeit neun Mal seine Schuldzahlungen ausgesetzt hat – allein zwei Mal seit der Jahrtausendwende – will kaum eine Bank mehr finanzieren.

Lediglich aus China und Katar bekam Argentinien zuletzt kleinere Überbrückungskredite. Um die wenigen Dollar im Land zu halten, hat die Regierungen Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Es gibt inzwischen ein Dutzend Wechselkurse für den Dollar.

Das Land ist fast vollständig vom weltweiten Kreditmarkt isoliert: Keine private Bank traut Argentinien zu, Kredite zurückzuzahlen.

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Nur multilaterale Geldgeber wie der IWF geben Buenos Aires noch langfristig Kredit – aber auch kein neues Geld: Der Fonds zahlt der Regierung in Raten gerade so viel aus, wie das Land an Zinsen und Tilgung auf den 45 Milliarden-Dollar-Kredit zurückzahlen muss, den es 2018 erhalten hat.

Zweifel an Javier Mileis Plänen

Walter Molano, Chefökonom bei der Investmentbank für Schwellenmärkte BCP Securities, sagte, Mileis Lösungsvorschläge hörten sich zwar in der Theorie ideal an. Doch er ist skeptisch, dass sie sich umsetzen lassen. „Sie würden zu massiven sozialen Unruhen führen, da vielen Menschen ihre Hilfen entzogen würden.“

Heute lebt fast die Hälfte der 42 Millionen Einwohner Argentiniens von staatlichen Zuschüssen. Doch die sind nicht einfach zu finanzieren, wenn rund 15 Millionen Menschen Beamte, Rentner oder Sozialhilfeempfänger sind, aber nur neun Millionen Argentinier in der Privatwirtschaft arbeiten. 40 Prozent der Argentinier sind heute arm.

Grafik

Damit Milei erfolgreich sein kann, müsste er einen Strukturfehler des argentinischen Wirtschaftssystems beheben. Seit Langem finanziert sich der Staat vor allem damit, dass er sowohl auf die Importe als auch auf die Exporte in den international wettbewerbsfähigen Branchen Abgaben erhebt. Das ist vor allem die Landwirtschaft, aber auch die Gaswirtschaft und zunehmend der Bergbau.

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Die Regierung erhebt sowohl Steuern auf die Importe als auch auf die Exporte in diesen Branchen. Andere Finanzierungsquellen hat der Staat kaum: Bei der hohen Informalität der Wirtschaft greifen Mehrwert- oder Einkommensteuern schlecht, dem Staat entgehen Einnahmen.

Mit den Abgaben auf landwirtschaftliche Güter versuchte erstmals Perón als Präsident nach dem zweiten Weltkrieg, das Land zu industrialisieren. Seitdem schützen Argentiniens Peronisten, die meistens an der Macht waren, die ineffizienten Unternehmen und unproduktiven Arbeitsplätze in der Industrie durch Zollmauern und Subventionen.

Das ist auch politisch einträglich: Die peronistischen Regierungen alimentieren mit den Sozialausgaben ihre politischen Klientelen wie die mächtigen Gewerkschaften und organisierte Sozialhilfeempfänger. Diese Praxis zu ändern ist politisch schwer durchzusetzen. Der Widerstand ist gut organisiert. In Stunden können die Gewerkschaften das Land mit Streiks stilllegen.

Dollarisierung scheiterte in der Vergangenheit

Der ehemalige Zentralbankchef Ecuadors, Luis Jácome, ist ebenfalls skeptisch. Er glaubt nicht, dass die Einführung des Dollars als Zahlungsmittel die Probleme Argentiniens lösen werde. Eine solche müsse mit einer soliden Wirtschaftspolitik und wachstumsorientierten Strukturreformen begleitet werden. „Sonst drohen bei der Dollarisierung wirtschaftliche Stagnation und eine hohe Arbeitslosigkeit.“

Javier Milei mit Unterstützern

Milei plant unter anderem, den Dollar als zusätzliche Währung einzuführen.

(Foto: AP)

Jácome verweist auf die Erfahrungen aus den 1990er-Jahren. Damals bestimmte Carlos Menem, dass jeder Peso durch einen Dollar in den Reserven gedeckt sein muss. Doch die Maßnahme scheiterte, das Land rutschte in eine noch größere Krise.

Auch Milei scheint klar, dass Argentinien nicht so schnell aus seiner Misere geholt werden kann. Mindestens 35 Jahre brauche er, um das Land wieder in Ordnung zu bringen.

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